Fluide Körper-Geist-Beziehung

Festival Im Hamburger Kampnagel macht heute „Projeto Brasil“ Station, eine Kollaboration freier Spielstätten mit Performance-Werken aus Brasilien. Die verfahrene politische Situation im Land wird thematisiert

Und plötzlich der Realitätsschock – im Theater wird das wirkliche Leben abgebildet

Der Effekt war nicht planbar, aber er hatte es in sich. Eine Woche nach der Suspendierung von Brasiliens Präsidentin Dilma Rousseff eröffnete im Dresdner Festspielhaus Hellerau das „Projeto Brasil“, ein von fünf freien Spielstätten gemeinsam ausgetragenes Festival. Die Berichterstattung der Vorgänge rund um Rousseffs Amtsenthebung war da hierzulande noch vorsichtig. Und plötzlich der Realitätsschock – im Theater das wirkliche Leben: größte Alarmbereitschaft, Manifeste, erhobene Fäuste! Brasilianische Künstler*innen im Ausnahmezustand. Nicht nur weil ihr Kulturministerium gerade de facto abgeschafft worden war, sondern vor allem auch, weil ihnen plötzlich klar war, wer sich da eigentlich an die Macht katapultiert hatte.

Skeptizismus gegenüber Länderfestivals, dagegen hat sich die Kollaboration von Hellerau, dem Berliner HAU, Kampnagel in Hamburg, dem Tanzhaus NRW in Düsseldorf und dem Frankfurter Mousonturm durchzusetzen. Finanziert hat die Kulturstiftung des Bundes, weshalb „Projeto Brasil“ nun als Auftaktveranstaltung zu einer neuen 12 Millionen Euro schweren Verbundförderung der genannten sowie zweier weiterer Performing-Arts-Häuser auf Bundesebene gilt. Ein Grund zum Feiern, können die Theater dadurch endlich Produktionen aus eigener Kasse bezahlen! Und anders als die Bedenken gegen „Projeto Brasil“ vermuten ließen, beweisen die Intendanten der Häuser mit diesem Auftakt auch, dass sie wissen, was sie tun.

Aus drei Gründen. Erstens: Der Zeitpunkt stimmt, auch wenn eigentlich eher die Olympiade als Aufhänger gedacht war. Zweitens: Brasiliens Kunstszene ergänzt die angelsächsisch-europäisch geprägte Performancewelt in ihren Fragen nach Ritual-, Entgrenzungs- und Transformationspraktiken hin zu einer fluiden Körper-Geist-Beziehung. Ebenso wie sie deren Horizont mit virtuosen physischen und tänzerischen Praktiken erweitert. Drittens: Die Kurator*innen der Häuser kennen sich aus: Dieter Jaenicke aus Dresden und Matthias Pees aus Frankfurt haben lange in Brasilien gearbeitet, HAU-Kurator Ricardo Carmona ist als Portugiese sowieso schon immer mit Transatlantik-Blick ausgestattet, und Kampnagel-Intendantin Amelie Deuflhard und Kuratorin Nadine Jessen etwa haben als abgebrühte Kosmopolitinnen ein sicheres Händchen für Diskurs- und Trendjagd, ohne einen welterklärerischen Überbau als Selbstbehauptungsstütze nötig zu haben.

Den Paternalismus-Verdacht umgehen die Macher zusätzlich dadurch, dass jeder seinen eigenen Zugang zur brasilianischen Szene wählt, was sich dann im Gesamten gleichzeitig entgrenzt und ergänzt. Zum Dresdner Auftakt nimmt Dieter Jaenicke „eine Gesellschaft im beängstigenden Zustand“ wahr. Dafür steht unter anderem die große Ausstellung von Favela-Street-Photography von Severino Silva und Pedro Lobo, die Foyer und Seitenflügel des Festspielhauses auskleidet und den verletzlichen Charme der Improvisation auf Schritt und Tritt in gnadenlose Banden- und Polizeibrutalität kippen lässt. Ricardo Carmona hat für das HAU den Schwerpunkt auf die Bedrohung der indigenen Völker Brasiliens gelegt. Alle Häuser beteiligen sich an einer Auftragsarbeit für die ewig junge und ewig magische Choreografin Lia Rodrigues.

Für Kampnagel, wo heute die Eröffnung von „Projeto Brasil“ ansteht, hat Nadine Jessen einen Dialog mit dem gleichzeitig stattfindenden Festival „Artificial Gardening“ geschaffen. Eröffnet wird mit der raumübergreifenden Installation „Podrera“ von Daniel Lie, der bereits in Hellerau eine Geruchsprobe seiner kybernetischen Kompostkunst aus verrottendem Obst, Pflanzen und Mineralien gegeben hat. Damit schreibt die Kuratorin einerseits die Sinnlichkeitserweiterung aus der Richtung eines ästhetischen Neo-Tropicalismo groß, andererseits nimmt sie den queeren und dekolonialen brasilianischen Körperdiskurs auf und schafft Querverbindungen zu den Sounds von Baile Funk.

Als „Brain in Residence“ hat der Tanzwissenschaftler ­Felipe Ribeiro dann die Aufgabe, über die emanzipatorischen Potenziale des Anus in Bezug auf queere Identität zu reden. Das klingt nach Kampfansage, und die dürfte bei diesem Festival nicht zu kurz kommen. Für ­Hängematten ist trotzdem gesorgt. Astrid Kaminski