: Krebsfälle im Zweifel geheim halten
Die Stadt Frankfurt am Main will nicht, dass Forscher eine Studie über die Folgen eines Chemieunfalls ohne ihre Erlaubnis veröffentlichen. Zudem sollen sie die Daten nach der Untersuchung vernichten. Ethisch nicht vertretbar, sagen Wissenschaftler
AUS BREMEN ARMIN SIMON
Das Frankfurter Gesundheitsamt behindert nach Einschätzung von Experten die Untersuchung der Langzeitfolgen eines der schwersten Chemiestörfälle der Bundesrepublik. Diesen Vorwurf hat jetzt das Bremer Institut für Präventionsforschung und Sozialmedizin (BIPS) erhoben. Anlass ist der Streit über den Umgang mit Gesundheits- und Adressdaten der Anwohner.
Der Störfall, um den es geht, liegt bereits 12 Jahre zurück: Am frühen Morgen des Rosenmontag 1993 überhitzt sich ein Kessel im Hoechst-Werk in Frankfurt-Griesheim, 11,8 Tonnen giftige, zum Teil Krebs erregende Chemikalien blasen in die Luft. Der harzige „gelbe Regen“ überzieht einen ganzen Stadtteil – Gesundheitsfolgen unbekannt.
Im Auftrag der Stadt Frankfurt befragte das BIPS damals 7.000 der 20.000 AnwohnerInnen nach ihren subjektiven Gesundheitsbeschwerden. Zugleich speicherten die ForscherInnen die genauen Adressen der Befragten – um die Symptome mit der wohnblockweise ermittelten tatsächlichen Belastung durch den Chemieregen vergleichen zu können. Das Ergebnis war eindeutig: je mehr Gift über der Wohnung herunterkam, desto mehr Übelkeit, Kopfschmerzen und ähnliche Probleme. Ein externer wissenschaftlicher Beirat, sagt BIPS-Epidemologe Wolfgang Ahrens, habe damals empfohlen, auch mögliche Spätfolgen im Auge zu behalten.
Die erste dieser Folgeuntersuchungen – eine Auswertung der Todesursachen aller bisher gestorbenen damaligen AnwohnerInnen – stünde jetzt an. Doch das Frankfurter Gesundheitsamt stellte Bedingungen: Ob und welche Ergebnisse der Studie publiziert würden, müsse die Stadt entscheiden dürfen. Und nach Abschluss der Studie müssten alle Daten vernichtet werden.
„Unter diesen Bedingungen können wir die Untersuchung nicht durchführen“, kritisiert Ahrens: „Wir müssen völlig unabhängig davon, wie die Studie ausgeht, publizieren dürfen.“ Eine Löschung der Untersuchungsdaten widerspreche zudem nicht nur allen wissenschaftlichen Grundsätzen. Sie sei auch „ethisch nicht vertretbar“. Ahrens: „Damit würde jede weitere Untersuchung abgeschnitten.“
Sowohl der Forschungsbeirat des BIPS als auch die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) stellten sich hinter die Bremer Epidemologen. „Nachträgliche konzeptionelle Änderungen würden zu einem nicht unerheblichen Vertrauensverlust in der Bevölkerung führen“, schrieb etwa der Datenschutzbeauftragte der DFG, Peter Dörel.
Rückendeckung erhält Ahrens darüber hinaus von den Bürgerinitiativen vor Ort. Wenn es in zehn Jahren Anzeichen für eine erhöhte Krebsrate unter den Störfallopfern gebe, dann müsse man diesen Verdacht überprüfen können, sagt Thomas Schlümme, Sprecher der „Höchster Schnüffler und Maagucker“. Dafür aber benötige man auch die Todesursachen der bereits Verstorbenen, und zwar mit ihren Wohnadressen zum Zeitpunkt des Störfalls. „Man macht sich alles kaputt, wenn man die Daten vernichtet.“
Die Leiterin des Stadtgesundheitsamts, Sonja Stark, wies die Kritik zurück. Sie selbst habe sich „vehement für eine Folgeuntersuchung eingesetzt“. Von einer Langzeitstudie, wie sie dem BIPS vorschwebe, sei aber nie die Rede gewesen. Das Institut kämpfe schlicht um Aufträge.
Nach dem hessischen Datenschutzgesetz, so Stark, müssten Personendaten vernichtet werden, wenn der Forschungszweck erfüllt sei. Und bei der von den Stadtverordneten im Frühjahr in Auftrag gegebenen Studie habe es sich ausdrücklich um eine „abschließende Gesundheitsuntersuchung der Spätfolgen“ gehandelt, sagt Stark.