Berliner Szenen
: Narzissmus der Jugend

Unsichtbar werden

Bizarr wurde es, als ich anfing, ­Spatzen zu füttern

Wird man mit dem Alter immer wunderlicher? Eine Erhebung, die ich vor Kurzem gelesen habe, sagt nein. Die Gegenargumente habe ich vergessen. Weiß auch nicht mehr, wo ich das gelesen habe.

Neulich habe ich einen jungen Mann zurechtgewiesen, der ein Straßenschild mit einem Aufkleber bestückt hatte. Irgendeine Werbung für irgendwas in der Wuhlheide. Jedenfalls, ich habe noch einen kurzen Moment darüber nachgedacht, und schon kam es mir aus dem Mund: „Muss das sein?“

Der junge Mann, Mitte zwanzig, auf einem Carbonrad, hat natürlich nicht reagiert. Er eilte auf dem Gehsteig davon. Ich werde immer konservativer, dachte ich. Tags und Graffiti nerven mich mittlerweile nur noch (da hätte ich auch eine prima Begründung: Narzissmus der abgehängten Jugend). Neulich stand ich mit einem gleichaltrigen Freund in einem sudanesischen Imbiss und musste mich wundern, wie wenig wir von den jungen Menschen dort beachtet wurden: nämlich gar nicht. Sie merkten nicht, dass sie im Weg standen, sich jemand vor oder hinter ihnen befand. Ob das ein Berlin-Phänomen sei, fragte ich den aus Köln zugereisten Freund. Nein, sagte er, das ist ein Phänomen der Jugend: Die schauen einfach nicht. Für die bist du nicht da.

Bizarr wurde es, als ich vor dem Lieblingscafé saß und anfing, Spatzen zu füttern. Aber sie waren doch auch so niedlich!

Am Abend war ich dann auf einem Konzert, um mich wieder jünger fühlen zu können. Schöne Gitarrenmusik. Es gefiel mir so gut, dass ich mir am „Merch-Stand“ (sagt man jetzt so) ein „Tape“ von der Band „geholt“ habe. Ja, richtig gelesen: ein Tape. Eine Kassette, sagte man früher. Es war auch die erste seit, äh, Moment, ungefähr 1989. Damals war es eine von Holly Johnson. Falls sich noch wer an den erinnert. René Hamann