: Einblick(622)
Hyoung-Min Kim, Choreografin und Tänzerin
taz: Welche Ausstellung in Berlin hat dich zuletzt an- oder auch aufgeregt? Und warum?
HMK: Ai Weiweis „Evidence“, 2014. Die Installation seiner Gefängniszelle aus 81 Tagen Haft hat mich nachhaltig beschäftigt. Ein Audioguide erklärte die Kameras, die Raummaße und den Abstand des Wachpersonals zu Weiwei: 70 cm. Ich habe lange recherchiert, ob es wirklich 70 cm waren, konnte aber nichts finden. Ich frage inzwischen nicht mehr, ob es Fakt oder Fiktion ist. Es hat sicher einen Grund, dass die Zahl 70 sich derart eingebrannt hat. Sie ist eine Spur für etwas, der ich weiter nachgehe …
Welches Konzert oder welchen Klub kannst du empfehlen?
Die Philharmonie. Die Akustik ist himmlisch. Man kann nicht erkennen, wo der Sound herkommt, er ist überall. Ich kann gar keine Worte dafür finden, wie sehr mich der Klang dort berührt. Vielleicht ist es ja genau das, was wir Kunst nennen: etwas, das du nicht beschreiben kannst, das dich vollkommen berührt und das du wieder erleben möchtest…
Welches Buch begleitet dich zurzeit durch den Alltag?
„Undercommons“ von Fred Moton und Stefano Harney. Sie ergründen, wie die Black-Radical-Tradition zeitgenössisches politisches Denken und ästhetische Kritik prägt. Es geht aber nicht nur um Traditionen, Race und Politik, sondern um die Frage: wie lieben, wie sich begegnen, wie füreinander da sein, wie loslassen. Das Konzept der Haptikalität hat mich besonders berührt. Für mich symbolisiert es Konfrontation in der Kommunikation, Verständnis in der Ablehnung, Liebe im Hass und Hass in der Liebe. Ab und zu frage ich mich: Bin ich haptikal genug gegenüber meiner Liebe, meinen Büchern, einem Glas Wasser, der Zeit …mir?
Was ist dein nächstes Projekt?
Nicht unbedingt ein Projekt, sondern ein Versuch: „Wie weit kann ich mit 70 laufen?“ Ich werde ausprobieren, mich in 70er-Einheiten auf der Straße zu bewegen. Ich messe 70 cm meines Körpers ab, darauf basierend laufe ich ein Stück. Diese 70 cm sind Teil eines Schritts, für den nächsten muss ich einen anderen 70 cm langen Teil meines Körpers benutzen. Das klingt abstrakt, wird aber in eine sehr strukturierte und simple Praxis resultieren.
Hyoung-Min Kim (*1980, Südkorea) arbeitet als Choreografin und Tänzerin in Berlin. Studium an der Korean National University of Art, School of Dance. Seit 2002 Arbeiten in Europa und Südkorea. Hyoung-Min Kims Schaffen bewegt sich auf der Grenze zu Tanz, verweigert sich aber der eindeutigen Klassifikation. Ihre Performances erkunden philosophische Fragen durch expressive, selbst auferlegte Körperübungen (Mit „15min“ ist sie auf dem Performing Arts Festival Berlin vertreten, siehe Seite 2).
Welcher Alltagsgegenstand macht dir am meisten Freude?
Roibuschtee Vanille-Tee, den ich geschenkt bekommen habe, ist zu einem urigen Ritual in meinem Tag geworden.
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