: Die Schönheit im Falschen
Theater Zwiespältige Regiehandschriften beim Festival „Radikal jung“ in München
Ersan Mondtag ist ein Regisseur, der sich selbst einen starken Formwillen attestiert. Darüber nachgedacht, wo in seiner am Staatstheater Kassel entstandenen Inszenierung „Tyrannis“ der Quell der Tyrannei sitzt oder warum in ihr mehrmals der Muezzin ruft, hat er dagegen eher nicht. Bei einer Diskussion auf dem Festival „Radikal jung“ im Volkstheater München lässt sich schwer entscheiden: Ist der 28-Jährige nur zugekifft oder immer so blasiert, dass alle Fragen an ihm abprallen?
Beides passt zu dem, was zuvor mehr als zwei Stunden lang zu sehen war: Gut polierte Horrorfilm- und Computerspielchiffren auf einer Bühne voller psychedelischer 70er-Jahre-Muster. Mondtag, der hier als Stückentwickler, Regisseur, Bühnen- und Kostümbildner fungiert, hat jeder der Figuren eine eigene Gehweise zugeordnet. Der Sohn rollt mit steifem Oberkörper über den ganzen Fuß ab. Die Mutter mischt die abendlichen Giftcocktails mit derselben Zackigkeit, mit der sie die Absätze ihrer Pumps in den „Shining“-Boden hämmert. Alle aber laufen buchstäblich blind und choreografisch ferngesteuert auf rechtwinkligen Bahnen durch den großen Bühnenraum, ins viel frequentierte Klo, in die vier kameraüberwachten Schlafzimmer und über den roten „Twin Peaks“-Flur, nur auf Screens zu sehen.
Der Grusel funktioniert, weil Mondtag bewährte Horror-, Überwachungs- und Suspense-Motive und -Musiken übereinander schichtet und die Gesichter mit den auf die Lider gemalten Augen wenig Menschliches haben. Allein, in München hat man derart artifizielle Verpuppungen in den installativen Inszenierungen Susanne Kennedys schon zwingender erlebt. Und in Berlin, wo „Tyrannis“ bald im Rahmen des Theatertreffens zu sehen sein wird, kennt man Vegard Vinge, bei dem Mondtag assistiert hat.
Ästhetisierung von Gewalt und Männlichkeit
Zugegeben, der Abend ist technisch stark und behauptet die Bühne erfolgreich als andere Welt. Was aber findet darin statt? Geht es um die Angst vor dem Fremden? Ist der axtschwingende Vater ein Mörder? Stammen die Schreie aus dem Off von einer verheimlichten Geburt? Lastet eine verdrängte Schuld auf diesem Clan der permanent umfallenden und wieder aufstehenden Untoten?
Vieles wird angetippt, keine Idee weitergeführt. Das kann man fad oder anregend finden, weil es genug Platz für eigene Fantasien gibt. Im Münchner Volkstheater, das sein 12. Festival der jungen Regie mit einer schauspielerfreien Lightshow aus Gießen und einer kompletten Inszenierungverweigerung (Monster Trucks „Regie 2“) eröffnet hatte, wirkte Mondtags bewegtes Gemälde allerdings fast wie das pralle Theaterleben – das aber erst das Caliband Théâtre Rouen mit „Raging Bull“ nach der Biografie des ehemaligen Mittelgewichtsweltmeisters Jake LaMotta tatsächlich auf die Bretter brachte.
Doch für diesen Abend erwies sich die Festivaldramaturgie als manipulativ: Denn vor der Folie der zuvor gezeigten feministischen Interpretation von Friedrich Hebbels „Judith “ von Marja Christians und Isabel Schwenk hat Matthieu Létuvés äußerlich ungebrochene Feier des virilen Männerkörpers fast etwas Anzügliches. Zumal in jener Szene, in der der selbst performende Regisseur von einer Vergewaltigung erzählt, während der HipHop-Tänzer Frédéric Faula seine ansehnlichen Muskeln in rotem Licht badet.
Ja, der von der Jury im Off-Programm des Avignon-Festivals entdeckte Abend neigt zur Ästhetisierung von Gewalt und ist so heteronormativ, wie Theater nur sein kann. Doch wie er seine Mittel einsetzt, ist toll: Ein einziger Schauspieler-Erzähler und ein Tänzer agieren hinter und vor vier Gazevorhängen. Auf denen ziehen geisterhafte Schwarz-Weiß-Skizzen der Bronx und von LaMottas innerem Stier vorüber, der den zwischen Armut und Gewalt aufgewachsenen Jungen am Leben hielt und immer wieder ins Verderben ritt.
Ein Livemusiker sorgt für akustische Modulation der Wutperformance, der die Energie nie ausgeht und die Vergeblichkeit eingeschrieben ist. Wie hier Spiel, Tanz und Video miteinander interagieren, ist groß. Wenn Létuvé von seinem festzeltgroßen Weltmeistermantel fast zu Boden gezwungen wird, mag das als Zeichen nicht übermäßig subtil sein. Der Schönheit der Inszenierung und ihrer (Manns-)Bilder verfällt man trotzdem. Sabine Leucht
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