: Leiden auf dem Herrensitz
Der Historiker Ian Kershaw führt in seinem neuen Buch vor, wie sehr das Phänomen Hitler das politische Establishment Großbritanniens überforderte
VON ANDREW JAMES JOHNSTON
Zu den schlimmsten politischen Schimpfwörtern gehört der Begriff „Appeasement“ . Bezeichnete er ursprünglich die Beschwichtigungspolitik, die Großbritannien von etwa 1935 bis zum Frühjahr 1939 gegenüber dem Dritten Reich betrieb, so assoziiert man heute generell damit eine politische Haltung aus Naivität und Feigheit bis hin zu heimlicher Komplizenschaft und Zynismus. Neville Chamberlain, der britische Premierminister, der das Appeasement wie kein anderer verkörperte, gilt heute fast als Witzfigur, die Hitler auf den Leim ging, während Churchill prophetisch genau die Katastrophe voraussagte, die dann auch eintrat.
Man sollte es sich mit dem Appeasement aber nicht zu leicht machen. Chamberlain und Lord Halifax, die für diese Politik verantwortlich zeichneten, waren hochintelligente Männer von Format. Sie wurden von ihren Zeitgenossen geachtet und hatten die Öffentlichkeit auf ihrer Seite. In einer Lage, die kaum Alternativen zu bieten schien, handelten sie aus rationalem Kalkül. In ihren Augen war Großbritannien in der zweiten Hälfte der Dreißigerjahre den Deutschen militärisch so weit unterlegen, dass es einen Krieg nicht riskieren konnte, bis es selbst aufgerüstet hatte. Um diese Rüstungspolitik betreiben zu können, brauchte man Zeit; und die bekam man nur, wenn man Hitlers Expansionswünschen bis zu einem gewissen Grad entgegenkam. Letztlich verkannte das Appeasement die Dynamik der nationalsozialistischen Außenpolitik, die auf immer weitere und schnellere Ausdehnung zielte.
Diesen Problemen wendet sich in seinem neuen Buch der englische Historiker Ian Kershaw zu, der vor einigen Jahren eine bedeutende Hitler-Biografie vorlegte. Auch diesmal wählt er eine biografische Perspektive, nämlich die von Charles Stewart Henry Vane-Tempest-Stewart, dem siebten Marquess of Londonderry. Er war von 1931 bis 1935 konservativer Luftwaffenminister und warb danach über persönliche Kontakte zur Nazi-Elite für eine deutsch-britische Verständigung.
Londonderry, ein ebenso ehrgeiziger wie engstirniger, zugleich schwerreicher Aristokrat, stand im Zentrum des gesellschaftlichen Lebens, geriet in der Politik jedoch ins Abseits. Er stürzte als Minister, weil er mitten im Wahlkampf, als die Öffentlichkeit über das Ausmaß der deutschen Luftrüstung schockiert war, stur darauf beharrte, dass die bestehenden Pläne zum Ausbau der Luftwaffe ausreichten. Als selbst ernannter Privatdiplomat scheiterte er, weil er nach seinem Sturz politisch zunehmend isoliert und obendrein sehr naiv war.
Allzu gern schenkte er der deutschen Friedensrhetorik Glauben, nicht zuletzt, weil ihm die Aufmerksamkeit der Nazigrößen schmeichelte. Der Lord und seine deutschen Gesprächspartner machten dabei den gleichen Fehler: Sie überschätzten Londonderrys Einfluss bei weitem. Die eigentliche Appeasement-Politik lief auf ihrem Höhepunkt 1938 gänzlich an ihm vorbei, während er in England zunehmend als deutschfreundlich galt. Als nach Hitlers Zerschlagung der Tschechoslowakei im März 1939 das Appeasement endgültig aufgegeben wurde, vollzog Londonderry den Schwenk zwar offiziell mit, hoffte aber insgeheim noch bis spät ins Jahr 1940, dass man sich seiner als Vermittler bedienen würde. Krank und enttäuscht verbrachte er die letzten Lebensjahre auf seinem Herrensitz in Nordirland und versuchte, seine Politik zu rechtfertigen, ohne dass sich jemand sonderlich dafür interessiert hätte.
Ian Kershaw hat ein nicht uninteressantes Buch geschrieben, das seinen Lesern eindringlich vor Augen führt, wie sehr das Phänomen Hitler das politische Establishment Großbritanniens überforderte, und auch, wie wenig der Aristokrat Londonderry, der all seine Ämter seinen Beziehungen verdankte, in der Lage war, sich von seinem adeligen Selbstverständnis zu lösen und sich den Gegebenheiten einer modernen parlamentarischen Demokratie mit starker Medienpräsenz anzupassen.
Wenn Kershaws im ganzen gut erzählte Geschichte dennoch eine Schwäche hat, dann ist sie struktureller Natur. Londonderry war einfach zu unwichtig, was auch die Nazis bald erkannten. Wir erleben daher kapitelweise die Enttäuschungen eines Mannes, dessen Vorschlägen niemand folgt und dessen Rechtfertigungen keiner hören will. Und nach einer Weile geht es uns ein bisschen wie den Zeitgenossen Londonderrys: Ganz so viel wollten wir von ihm gar nicht wissen.
Ian Kershaw: „Hitlers Freunde in England. Lord Londonderry und der Weg in den Krieg“. Aus dem Englischen von Klaus Dieter Schmidt. DVA, München 2005, 544 Seiten, 39,90 €