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Spielen ohne Strom

THEATER-EXPERIMENT Mit dem Stück „Eyes Wide Open“ setzt Barbara Schmidt-Rohr ihre Arbeit mit Kindern fort: Was kann man von ihnen lernen, wenn man sie in einem postapokalyptischen Szenario allein lässt?

von Robert Matthies

Ganz am Rand des Geländes, zwischen Gebüschen unter einem Kran, war diese kleine Installation versteckt. Nur ein paar vage Informationen bekam das knappe Dutzend Zuschauer beim Kampnagel-Sommerfestival im vergangenen Jahr mit auf den Weg, bevor es in den Unterschlupf einer geheimnisvollen Kindergemeinschaft geführt wurde: Aus irgendeinem Grund seien die Kinder allein gelassen worden und verwildert, hieß es; sie hätten sich inmitten von Pflanzen und Tieren eine eigene Welt aufgebaut, ganz ohne Kontrolle durch Eltern oder Lehrer.

Kontakt ohne Kontrolle

Drinnen traf man auf vier Mädchen und vier Jungen, geschminkt wie Tiere, die überein­anderkletterten und untereinander hindurchkrochen, sich aneinanderkuschelten, plötzlich zu fauchen, zu heulen und in einer unbekannten Sprache zu reden begannen. Bilder von Tieren hingen an der Wand, in einem Regal standen Topfpflanzen und Käfige mit Nagern, daneben lagen Tiermasken. Dann nahmen die Bewohner Kontakt mit den Besuchern auf: schauten sie reglos an, distanziert und ganz nah zugleich.

Schließlich bekam man von einem der Kinder eine der Tiermasken aufgesetzt, die Augen wurden verbunden und ein seltsamer Initiationsritus begann. Sanft, aber bestimmt wurde man an die Hand genommen und herumgeführt, bekam Dinge in die Hand gedrückt, unerkennbare Worte ins Ohr geflüstert, ringsum überall Geräusche. Und nach einer knappen Dreiviertelstunde stand man plötzlich wieder vorm Eingang.

Ein ungewöhnliches Theater­erlebnis war das, so ganz allein einer Horde von Kindern ausgeliefert. Nicht mehr Zuschauer zu sein, stattdessen zu fühlen, zu riechen und zu hören; nicht zu verstehen, was mit einem geschieht; nicht zu wissen, was mit den anderen passiert und wie man sich verhalten soll: ein Spiel mit der Spannung zwischen Intimität und Distanz, zwischen Teilnahme und Draußensein, zwischen eingeübten Erwartungen an den Theaterraum und dem Abgeben von Kontrolle in ihm. Kein Stück von Kindern für Erwachsene, sondern eines über unseren Umgang mit ihnen und darüber, wie das Theater daraus lernen kann.

Theater ohne Pädagogik

„The Bee Treasure“ hieß die Produktion, die die Kuratorin und Choreografin Barbara Schmidt-Rohr vom Verein Tanzinitiative Hamburg unter anderem gemeinsam mit der Künstlerin Isa Melsheimer, dem Musiker Richard von der Schulenburg und den Kindern entwickelt hatte. Ein kleines unspektakuläres Experiment, das keine Geschichte erzählt, keine Antworten gibt, nicht mal ausdrücklich Fragen formuliert, aber gerade deshalb nachdenklich macht: Wie nähert man sich der Welt der Kinder, wie nimmt man sie wahr? Was passiert, wenn man sie machen lässt und darauf verzichtet, ihnen etwas beibringen zu wollen? Und wie geht man künstlerisch mit diesen Fragen um?

Nun wird das Projekt weitergeführt, im Rahmen des Kampnagel-Fokus „GenerationISM“, der vier Produktionen zeigt, die auf ganz unterschiedliche Weise professionell mit jungen Performerinnen und Performern arbeiten. „Eyes Wide Open“ heißt das Stück, das ab Mittwoch zu sehen ist und die Idee des Verwilderns weiterspinnt. Ein post­apokalyptisches Szenario wird diesmal inszeniert: Wie richten sich Kinder in einer postdigitalen Welt ein, in der den Tablets, auf deren Displays nur noch Erinnerungen an vergangene Zeiten zu sehen sind, bald der Saft ausgeht?

Welt ohne Netz

Auf die Idee zum Stück sei sie im vergangenen Jahr gekommen, erzählt Schmidt-Rohr, als sie beobachtet habe, wie sich die Kinder verhielten, als sie sich beim Proben selbst filmten. Erstaunlich kontrolliert hätten sie agiert, wüssten genau, wie man eine Kamera hält und sich davor positioniert: Die digitale Welt zwingt ihnen Formen auf, in denen sie sich kontrollieren müssen. Zugleich sei der körperliche Umgang mit den glatten Oberflächen der digitalen Welt ganz direkt: Bedürfnisbefriedigung, ein gegenseitiges Verschlingen von Kind und Technik.

Ein Spiel mit der Angst vor dem Kontrollverlust wird deshalb auch „Eyes Wide Open“ sein. Statt an den Rand gehe es diesmal zwar in einen klassischen Theaterraum, der aber nicht klassisch bespielt werde, sagt Schmidt-Rohr. Zwar würden die Augen diesmal nicht verbunden, dennoch gehe es nicht darum, von außen auf etwas zu schauen, sondern mittendrin zu sein in einer Installation, in der es ums Auftauchen vielgestaltiger Formen gehe: Klang und Licht, Tanz und Kostüme, Video und Spiel, zusammengehalten nur vom Szenario und seiner narrativen Struktur.

Viel mehr möchte sie noch nicht verraten, denn auch diesmal geht es ums Sicheinlassen auf eine Welt, die man doch gar nicht wird verstehen können: ums genaue Hinsehen ohne Netz und den doppelten Boden gewohnter Wahrnehmung – die Augen weit geöffnet.

Mi, 11. Mai, bis Fr, 13. Mai, je 19 Uhr ; Sa, 14. Mai, 20 Uhr, Kampnagel

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