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Gericht: Aleviten werden diskriminiert

TÜRKEI Alle Versuche einer Verständigung unter der AKP-Regierung sind bislang gescheitert

AUS ISTANBUL Jürgen Gottschlich

Die türkische Regierung lehnt die Aufforderung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte ab, die Aleviten als gleichberechtigte Religionsgemeinschaft anzuerkennen. Für die AKP-Regierung in Ankara sind die Aleviten zwar Teil des Islam, aber keine eigenständige Religionsgemeinschaft.

Am Dienstag hatte das Gericht in Straßburg 203 alevitischen Beschwerdeführern recht gegeben. Laut Gericht werden die Aleviten in der Türkei diskriminiert und in ihrer Religionsfreiheit verletzt. Die ersten Reaktionen in Ankara lassen darauf schließen, dass dieser Richterspruch, wie schon vorherige zum selben Thema, ohne Folgen bleiben wird.

Die Frage, ob die rund 20 Millionen Aleviten in der Türkei eine eigene Religionsgemeinschaft innerhalb des Islam bilden, spaltet die Gesellschaft seit langem. Während die offizielle Religionsbehörde Dianet so tut, als seien die Aleviten nur eine islamische Sufi-Sekte, betrachten strenggläubige Sunniten die Aleviten als Häretiker. Die Aleviten in der Türkei sind wie die Schiiten im Iran und die Alawiten in Syrien der Meinung, nur leibliche Nachkommen des Propheten Mohammed dürften Führer der muslimischen Gemeinschaft sein.

Darüber hinaus gibt es erhebliche Unterschiede zwischen Schiiten und Aleviten. Die Aleviten beten nicht in der Moschee, sondern in eigenen Gebetshäusern, den Cemevi. Im Ramadan wird nicht gefastet, die Frauen tragen keine Kopftücher und genießen mehr Rechte. Die Gemeindeführer werden „Dede“ genannt, anders als die sunnitischen Imame haben sie keine theologische Ausbildung. Angeblich enthält die alevitische Lehre Anklänge an vorislamische Riten Anatoliens. Im Gegensatz zu Imamen werden die Dedes nicht vom Staat bezahlt, die Cemevis von der Religionsbehörde nicht gefördert und alevitischen Kindern kein eigener Religionsunterricht zugebilligt. Alle Versuche einer Verständigung unter der AKP-Regierung sind bisher gescheitert.

Die Differenzen zwischen Sunniten und Aleviten gehen bis auf die Frühzeit des Islam zurück und haben immer wieder zu gewaltsamer Unterdrückung der Letzteren geführt. Zuletzt wurde 1993 ein alevitisches Festival in Sivas von einem sunnitischen Mob angegriffen; dabei wurden 37 Aleviten getötet. Derzeit wehren sich mehrere alevitische Dörfer in Anatolien gegen die Ansiedlung großer Gruppen sunnitischer syrischer Flüchtlinge. Sie befürchten, die Regierung wolle sie zur Minderheit in ihrem eigenen Gebiet machen.

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