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Archiv-Artikel

In Form gegossene Raserei

David LaChapelles Dokumentation „Rize“ spielt in Los Angeles, wo zwischen Reihenhäusern, unter Autobahnbrücken und in großen Arenen eine neue Tanzkultur blüht: der HipHop der Hoffnungsvollen

Am meisten fesselt, wie schnell Becken und Schultern geschüttelt, wie sehr einzelne Gliedmaßen verfremdet werden

VON KATRIN BETTINA MÜLLER

Was Tanz bedeuten kann? Selten erhält man darauf so viele und so existenzielle Antworten wie in David LaChapelles Film „Rize“. In Los Angeles, in den Vierteln, in denen bei den riots 1992 ganze Straßenzüge brannten, hat David LaChapelle die Protagonisten seines Dokumentarfilms gefunden: Tommy the Clown, der den neuen Stil zuerst auf Festen für Kinder und für die schwarze Community entwickelt hat, Larry, Dragon, La Nina und viele andere. „Clowning“ und „Krumping“ nennen sie ihre Moves und grenzen sich damit vom kommerzialisierten HipHop und anderen Gangs ab. „Wenn ich kein Clown wäre, wäre ich sicher böse“, sagt einer von ihnen. Der Tanz ist ihr Ticket für die Flucht aus dem Elend.

Am Anfang des Films wirken die markigen Worte, mit denen die jungen Männer ihren Tanz als lebensnotwendigen Ausweg skizzieren, noch sehr hochtönend. Sie erzählen, während sie sich schminken, grotesk und puppig wie ein Clown, martialisch und bedrohlich wie eine rituelle Kriegsbemalung, oder auch einfach farbenblühend im Stil hippieesker Flowerpower. Und wie die Masken, die sie anlegen, sie verfremden, schützen und verstecken, funktionieren auch ihre Botschaften als Schild und Wappen. Je länger der Film aber dauert, je mehr man aus ihrem Leben erfährt, desto glaubwürdiger wird, um was es in ihrem akrobatisch-athletischen Tanz eigentlich geht.

Zum Beispiel darum, zu feiern, dass man überlebt hat: dass man nicht zu Hause war, als die Wohnung überfallen wurde; nicht gerade in dem Supermarkt einkaufen war, in dem die Kugeln eines Feuergefechts ein paar Mädchen trafen. Für einen Jungen, dessen Mutter sich umbrachte, und einen andern, dessen Eltern im Gefängnis sitzen, werden die Heftigkeit und fordernde Anstrengung der Bewegung zu einem Mittel von Trauerarbeit, in Form gegossene Raserei, die den Umgang mit Zorn, Schmerz und Ohnmacht erleichtert. Manche glauben, in ihrer Tanzszene vor einer Drogenkarriere geschützt zu sein. Und weil sie ihre eigenen Schulen bilden und an selbst gewählten Orten zusammenkommen, finden sie eine Alternative zum Ballett- und Steptanz besser gestellter Kinder.

Das ist, was die 15 jungen Männer und Frauen, die zu Recht alle Künstlernamen tragen und um die LaChapelle seinen Film gebaut hat, erzählen. Man sieht aber noch mehr. Einmal schneidet LaChapelle jeweils für Sekunden ethnografisches Material dazwischen, von Tänzen aus afrikanischen Kulturen, und die Bewegungen gleichen sich aufs Haar. Ein Gedächtnis des Körpers wird so im HipHop wach – oder hergestellt, das sich an eine verschwundene und zerstörte Vergangenheit erinnert. Die Drohgebärden, die provozierende Körperlichkeit, die jeden Muskel als einsatzbereites Instrument ins Spiel bringt, das ständige Messen der Kräfte und der Leistungen in den Treffen bekommenen etwas von stellvertretender Kriegsführung. Tanz als Ritual, als Teil magischer Praktiken, als Kommunikationsform, um Konflikte auszubalancieren – man würde auf dieser Schiene gerne weiter nachdenken, aber der Film reißt sie nur kurz in Bildern an.

Bevor es losgeht, erscheint ein Satz auf der Leinwand: Das Tempo des Films wurde nicht manipuliert. Tatsächlich ist die Geschwindigkeit, mit der Becken und Schultern geschüttelt, einzelne Glieder isoliert und verfremdet werden, das Unglaublichste und Fesselnde an diesem Tanzstil. Die schönsten Bilder sind in einer Industriebrache entstanden, wo sich die glänzenden, blendenden Körper und die fliegenden Tröpfchen des Schweißes im harten Kontrast vom Blau des Himmels abheben.

Wie die Spannung in jedem Auftritt gesteigert wird, wie die Energie kulminiert und wie sich in den Gesten Differenzen des Ausdrucks ausbilden, hat allerdings nicht nur mit Geschwindigkeit, sondern auch mit Entwicklung, Dauer und dem Verhältnis zum Raum zu tun. Das ist der Punkt, an dem LaChapelles Film seine Schwachstelle hat und durch eine einfallslose Aufnahme- und Schnitttechnik enttäuscht. Fast alle Einstellungsgrößen gleichen sich, viel zu schnell werden die Tanzenden hintereinander geschnitten, zack, und der nächste, viel zu wenig sieht man von den Orten der Treffen und kein einziges Mal einen Tanz wirklich von Anfang bis Ende. Da arbeitet der Film mit einer Ästhetik, die das Tempo der Moves noch zu steigern versucht und deshalb nicht in der Lage ist, auch das kompositorische Potenzial zu verfolgen.

Sicher hängt das mit der bisherigen Film-, Video- und fotografischen Arbeit von David La Chapelle zusammen. Der Glamour, der Hochglanz und die sexualisierte Aura des Pop sind sein Spezialgebiet, und die, die Millionen mit den Versprechen ihrer Körper scheffeln, sind seine Auftraggeber. Er hat Zeitschriftencover von Vanity Fair und Italian Vogue, Albumcover und Videoclips für Jennifer Lopez, Christina Aguilera, Britney Spears und andere Stars gestaltet, und in diesem beeindruckend umfangreichem Werk geht es immer um ein Spiel mit dem Schein und das Vorantreiben einer Ästhetik, die sich ihrer höchsten Künstlichkeit und Kommerzialisierung bewusst ist.

„Rize“, LaChapelles erster langer Film, wirkt dagegen wie ein persönliches Bekenntnis und hartes Kontrastprogramm, lehnen doch alle Beteiligten die Kommerzialisierung ihrer Kunst ab. Die Arbeit am Film, stellt man sich vor, muss für den Regisseur von einer ähnlich kathartischer Wirkung gewesen sein wie der Tanz für die Tanzenden.

„Rize“. Regie: David LaChapelle, Dokumentarfilm, USA 2005, 85 Min.