Parlament beschädigt

Ein Skandal: Der Fall Bisky im Bundestag dokumentiert nichts als dumpfe Vorurteile

Die drei Abstimmungen sprechen jedem republikanischen Geist Hohn

Erst mal drüber schlafen – das war der allgemeine Ratschlag am Dienstagabend nach dem Abstimmungseklat im Bundestag. Doch je ausgeschlafener, desto idiotischer erscheint dem Zeitgenossen das Abstimmungsverhalten der Parlamentarier-Mehrheit, die Bisky das Amt des Bundestagsvizepräsidenten verweigerte. Verfassungspolitisch ist der Fall klar. Die Fraktion nominiert den Kandidaten, das Plenum stimmt ohne Aussprache zu. Damit ist kein politisches Urteil über den künftigen Amtsträger gefällt, sondern der Fraktion wird das legitime Recht eingeräumt, an der parlamentarischen Arbeit mitzuwirken.

Deshalb ist das Argument, niemand könne die Abgeordneten zwingen, einem ihnen missliebigen Kandidaten zuzustimmen, abwegig. Das Präsidium des Bundestages leitet die Sitzungen und sorgt für deren ordentlichen Verlauf. Um Manipulationen der parlamentarischen Mehrheit entgegenzusteuern, ist es wichtig, dass von den Oppositionsparteien bestimmte Kandidaten in das Gremium einrücken. Sie sind es, die das Vertrauen ihrer Partei genießen.

Die Vorgänge rund um die drei Abstimmungen sprechen auch jedem republikanischen Geist Hohn, dem die Abgeordneten der Mehrheit sich angeblich verpflichtet fühlen. Ausdrücklich und eigentlich überflüssigerweise wurde seitens der Linkspartei bei den anderen Fraktionen vorgefühlt, ob gegen die Kandidatur Biskys Einwände bestünden. Kein Abgeordneter signalisierte, er werde dessen Wahl nicht zustimmen. Gewissen? Eine allzu jäh entdeckte Regung, wenn man bedenkt, welches Kümmerdasein das Gewissen der Abgeordneten dort spielt, wo es eigentlich anklopfen müsste. Das Gewissen, nichts als ein Vorwand, ausgerechnet hier zu einer Fundamentalfrage stilisiert.

Bei den Abstimmungen brach sich die „wabernde Wut“ (so treffend Lafontaine) Bahn. Jetzt wird beruhigt, es habe weder Absprachen noch eine „Ablehnungsfront“ gegeben. Umso schlimmer. Wie soll man Parlamentariern vertrauen, die die geheime Wahl dazu nutzen, dumpfe Vorurteile abzulassen? Das Abstimmungsergebnis dokumentiert nichts als das Sentiment, „der sitzt nicht legitimerweise im Parlament“. Hierdurch wird nicht die Linkspartei getroffen. Vielmehr wird das Ansehen demokratischer Prozeduren ruiniert. Wie wenig sich die Mehrheit der Abgeordneten von einem Minimum auch an praktischer Vernunft leiten ließ, zeigt sich daran, dass ausgerechnet Lothar Bisky zur Zielscheibe wurde. Dieser Politiker hat seit 1990 Dialogbereitschaft, Einsicht in den diktatorischen Charakter des SED-Regimes und konstruktive Angebote zur politischen Arbeit bewiesen, die man bei altbundesrepublikanischen Politikern selten findet. Daher auch seine Beliebtheit im deutschen Osten – und nicht nur da. Es gibt nur einen Ausweg: weiter abstimmen. Bis die Abgeordneten so weit ausgeschlafen sind, dass, wenn schon nicht Vernunft und republikanische Haltung, dann wenigstens Einsicht ins Unvermeidliche obsiegt. CHRISTIAN SEMLER

Fotohinweis:Christian Semler ist seit 1989 Autor der taz.