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Archiv-Artikel

Ums Verrecken in Gesellschaft sein

SILVESTER Alle wollen die Sowjets sein, der Volkssturm hat ja nur Wunderkerzen, und stürmen die Partys von Freunden, als wären sie ausgebombt: zu den Berliner Endkampffestspielen liegen die Nerven wie immer blank

VON ULI HANNEMANN

Es gibt ja so viel zu feiern zum Jahreswechsel, gerade in Berlin. Denn das Jahr 2012 war ein überaus erfolgreiches für die Stadt: Hertha BSC hat es endlich geschafft, die Spielklasse zu erreichen, in die der Club gehört, und, nicht nur das, vermag er es sogar auf Anhieb, oben mitzuspielen. Die Infrastruktur blüht und gedeiht – in nur wenigen Jahren soll die sogenannte „S-Bahn“ bereits wieder pünktlich verkehren. Dann, so munkelt man, wird die Stadt auch an den internationalen Luftverkehr angeschlossen sein, der bislang über ein behelfsmäßiges Rondell in der Nähe des Jakob-Kaiser-Platzes abgewickelt wird. Die Radieschen auf dem Flughafen Tempelhof gedeihen derweil prächtig.

Eine besonders schöne Überraschung aber feiert die Berliner Polizei kurz vor Jahresende: Die jahrelang führerlos dahintaumelnde Behörde erhält nach langer verzweifelter Suche endlich einen neuen Präsidenten. Apropos führerlos: Natürlich feierte man heuer auch den siebenundsechzigsten Jahrestag der Befreiung vom Joch der Nationalsozialisten – wir erinnern uns, einer fiesen aus dem Süden eingesickerten Kleinstsekte, der es immerhin über ein Jahrtausend hinweg gelang, die große Mehrheit der Bevölkerung zu ihren Zwecken zu missbrauchen.

Genau diese Befreiung ist immer noch der Hauptanlass der großen Berliner Silvesterfeier. Wenn der Kampf um Berlin in den Straßen der Hauptstadt ein weiteres Mal nachgespielt wird, will natürlich jeder zu den Russen gehören. Da tun es zur Not auch Polenböller. Der Volkssturm ist klar in der Unterzahl und nur mit kümmerlichen Wunderkerzen ausgerüstet.

Zum Vernichtungswillen gesellt sich dann auch der Selbstvernichtungswille. Bowle, Sekt und Prosecco – die unheilige Dreifaltigkeit aus vergorenem Gemüse, Puffbrause und der anerkannten „Leberwurst unter den Getränken“. Der Genuss dieser Notnahrungsmittel ist eine Referenz an die knappen Zeiten vor allem direkt vor und nach dem Kriegsende, als die Bevölkerung praktisch alles zu sich nehmen musste, was der geduldige Körper nicht bei drei in die Büsche kotzt.

Und so sieht man die wackeren Bürger rund um die Kneipen, Bars und Brandenburger Tore der in dieser Nacht symbolisch auferstandenen Frontstadt laut würgend ihren Dienst an die Erinnerung verrichten. Der ständige Beschuss, unter dem sie dabei stehen, ist als historisches Element aus den Feierlichkeiten nicht mehr wegzudenken. Schade nur, dass der Ernst der Veranstaltung durch das kleinliche deutsche Waffengesetz verwässert wird und so ein Gedenktag doch ein bisschen zur reinen Folklore verkommt. Daher bleibe ich selber am liebsten zu Hause. Aber anscheinend muss man ja in ebendieser Nacht immer irgendetwas machen. Was ich nicht verstehe, man macht doch sonst auch nichts. Man zieht sich eine DVD rein, geht früh zu Bett und lässt das Berliner Nachtleben eine gute Frau sein. Bloß an Silvester gilt das offenbar nicht, und an dieser Stelle muss ich leider nochmals auf das Stichwort „gute Frau“ zurückgreifen. Die will Silvester nämlich ums Verrecken in Gesellschaft sein. Entweder lädt sie selber ein oder wird eingeladen. WIR werden eingeladen.

„Wir werden doch eingeladen?“, fragt sie zusehends unruhiger, es gibt zwei, drei lose Anfragen, mehr nicht. Eine komische Frage, denn sie ist zwar sehr nett, aber solange ich dabei bin … „Ja, ja“, sage ich trotzdem, was die Kurzform für „Leck mich am Arsch“ ist, weil ich denke, ein paar Folgen „Breaking Bad“ zu zweit bei einer guten Flasche Wein sind auch nichts Schlechtes. Um Mitternacht dann kurz auf den Balkon, die Endkampffestspiele gucken, und danach wieder hübsch ins Warme zum Geballer auf dem Bildschirm wechseln. Fein, fein, fein. „Nein, nein, nein“, hieß es auf einmal dann Silvester vor zwei Jahren. Sämtliche lose Angebote hatten sich kurz vor Ultimo zerschlagen. „Na und?“, meinte ich lapidar. „Wir können doch auch zu zweit bei einer guten …?“

Weiter kam ich nicht, denn im Nu heulten ohrenbetäubend die Sirenen. Fliegeralarm. Oder so etwas Ähnliches. Worte fielen wie Bomben. Jedenfalls drohte ich mir, schneller als ich mich hätte ducken können, den Fangschuss abzuholen. Beziehungstechnisch, und am Neujahrstag dann allein, neues Spiel, neues Glück. Das aber wollte ich nicht. Zügig tat ich mitleidige Freunde auf, bei denen wir in der Silvesternacht unterschlüpfen konnten. In Notzeiten muss das Volk zusammenrücken. Es war sehr schön, hatte aber auch etwas von ausgebombt. Eine weitere Reminiszenz an die Befreiung war geboren.