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WIRREN Umkämpfte Gebiete: Jan Böttcher verknüpft in „Y“ deutsche Familienwelten mit der Gegenwart im Kosovo, wo der Krieg Spuren hinterlassen hatDie Geschichte mit Arjeta und Jakob

von Christoph Schröder

Die Installation, die die beiden Künstler Arjeta Haliti und Lum Podrimja mithilfe von Filmmaterial dokumentiert haben, trägt den Titel „Projekt Provisorium“. Es geht um eine Daseinsform nach dem Krieg; um einen Lebenszustand des Flüchtigen und Unsteten. Und nicht zuletzt auch um eine verwirrende Epoche, in der die Wirren des Kampfs noch nicht wieder von ordnenden Strukturen abgelöst worden sind.

Arjeta, eine der Protagonistinnen von Jan Böttchers neuem Roman, dessen kryptisch anmutender Titel „Y“ auf die simpelste aller ordnenden Strukturen, den Familienstammbaum, bestehend aus Vater, Mutter und Kind, rekurriert, ist in Deutschland aufgewachsen. Im Jahr 2000, nach dem Ende der Kampfhandlungen, ist sie, nicht ohne sanften Druck, mit ihrer Familie zurückgekehrt ins Kosovo. Eine Region zwischen (vergeblichem) Kampf um Selbstbestimmung, Traumatisierung und europäischen Interessenlagen.

Doch „Y“ beginnt zunächst einmal ganz konventionell im Berlin der (Fast-)Jetztzeit. Benji, der 14 Jahre alte Sohn des Ich-Erzählers (ein Schriftsteller, der gewisse Ähnlichkeiten mit dem Autor Jan Böttcher aufweist), bringt eines Tages einen Jungen mit nach Hause, der offenbar ausgerissen ist: Leka spricht kein Wort und verschwindet kurz darauf wieder so plötzlich, wie er aufgetaucht ist. Der Ich-Erzähler forscht nach und lernt Lekas Vater Jakob Schütte kennen, einen nicht unbedingt sympathischen Programmierer von Computerspielen. Jakob erzählt dem Schriftsteller seine gemeinsame Geschichte mit Arjeta. Diese Erzählung wiederum bildet den ersten Teil des Romans.

Die Konstruktion klingt komplizierter, als sie sich dann tatsächlich lesen lässt, obgleich es hin und wieder etwas unelegant wirkt, wenn der Schriftsteller sich in die von ihm aufgezeichneten Erinnerungen Jakobs mit Reflexionen und Zweifeln einschaltet. Schon zu Schulzeiten ist die distanzierte Arjeta Jakobs Jugendliebe gewesen. Als die beiden sich Jahre später auf einer Party wiedertreffen, werden sie ein Paar. Die Beziehung ist schwierig: Arjetas Eltern und Brüder sind nicht einverstanden mit dem Freund der Schwester; für sie kommt nur ein Kosovare infrage. Jakob fühlt sich drangsaliert und manipuliert. Im Sommer 2000 ist Arjeta schwanger und geht nach Prishtina. Jakob folgt ihr und wird von der Familie abserviert. Als Leka im Dezember 2000 geboren wird, steht der Name eines anderen Mannes, eines Kosovaren, in der Geburtsurkunde.

Immer wieder geht es um Kontrolle – über ein Land, sein Leben oder das der eigenen Kinder

Beeindruckend und auch atmosphärisch mitreißend ist „Y“ in der Beschreibung der heillos zerrissenen, dysfunktionalen Stadt Prishtina, in der ein unkoordinierter und zum Teil vollkommen sinnfreier Bauboom ausbricht. Jeder macht erst einmal das, was ihm einfällt, vor­ausgesetzt, er zahlt das notwendige Kleingeld an die richtigen Organisationen. Der Krieg hat bei allen und in allem seine Spuren hinterlassen; Waffengeschäfte sind an der Tagesordnung. Als Jakob wegen einer verhältnismäßigen Nichtigkeit von einem Polizisten zusammengeschlagen wird, flieht er aus dem Kosovo. Er gründet eine Firma – und entwickelt ein hochkomplexes und ungemein erfolgreiches Computerspiel, das wiederum den Kosovokrieg als Actionfläche benutzt.

Auf der Suche nach Halt

Immer wieder verschwimmen bei Jan Böttcher die Ebenen, und immer wieder geht es um Kontrolle. So wie der Spieler des Spiels die Kontrolle über ein eigentlich nicht zu kontrollierendes Land zu gewinnen versucht, so versuchen auch immer wieder Eltern Zugriff auf den Erfahrungsraum ihrer Kinder zu gewinnen. Und letztendlich, auf höherer Ebene, geht es auch auf politischer Ebene darum, wie und ob Institutionen sich in einem umkämpften Gebiet wie dem Kosovo Einfluss sichern können und sollen. All das ist, wie man es von Jan Böttcher aus früheren Romanen gewohnt ist, klug inszeniert und spannend geschrieben.

Bedauerlicherweise allerdings schickt Böttcher im zweiten Teil des Romans sein Schriftsteller-Alter-Ego selbst gemeinsam mit dessen Sohn nach Prishtina. Und dieser Schriftsteller weiß mit der Stadt nicht eben viel anzufangen. Er ist ratlos, verwirrt, auf der Suche nach gedanklichem Halt oder auch nur optischer Orientierung. Und weil Böttcher kaum etwas anderes einfällt, als die Haltlosigkeit und das Verlorenheitsgefühl abzubilden, zerfällt „Y“ im zweiten Teil in eine Ansammlung loser Beobachtungen und Skizzen.

Was genau Arjeta, mittlerweile zu einer feministischen Künstlerin geworden, antreibt, bleibt im Dunkeln. Stattdessen greift Jan Böttcher am Ende zu für ihn ungewohnt abgegriffenen großen Begriffen: Rechtsstaatlichkeit, Lobbyismus. Und die eigene westdeutsche Jugend als Schlüssel für den eigenen Selbsthass.

Jan Böttcher war für ein Stipendium der Bosch-Stiftung im Kosovo. Auf deren Homepage hat er Fotos eingestellt, die sowohl die wilde, illegale Architektur als auch die Schönheit der Landschaft dokumentieren. Es hat fast den Anschein, als sei Böttchers sicherer Zugriff auf den Stoff in alldem ein wenig verloren gegangen.

Jan Böttcher: „Y“. Aufbau Verlag, Berlin 2016, 256 Seiten, 19,95 Euro

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