FAHRENDER BUNKER : Pendlerschicksal
Die Rente mit 67 und die Hartz-Gesetze, die größten Verbrechen dieses Jahrzehnts am Sozialstaat, haben vielen Sozialdemokraten das Herz und der SPD das Genick gebrochen. Folge war eine Wahlniederlage, die das nächste soziale Verbrechen durch die schwarz-gelbe Bundesregierung, die Privatisierung der Gesundheitsversicherung, möglich macht. Kein Wunder also, dass sich die Berufstätigen einem immer größeren Druck aussetzen, um trotz widriger Umstände bis zur Rente in Lohn und Brot zu bleiben – wie man selbst im Kurzurlaub erfahren kann.
Ein trüber Dienstagnachmittag im Spätherbst, ich sitze im Regionalzug von Berlin nach Rostock und freue mich auf ein paar Tage Ausspannen an der Ostsee. Der Zug ist prallevoll mit Pendlern, die erstaunlicherweise nicht in Oranienburg, sondern erst in Gransee und Dannenwalde aussteigen. Manche fahren gar bis Neustrelitz, mehr als eine Stunde vom Berliner Hauptbahnhof entfernt. Dort, in Ostmecklenburg, leert sich endlich der Zug. Ich suche mir einen neuen, bequemen Platz und packe mein Abendbrot aus: eine Stulle, ein Apfel und ein Bier. „Prost!“, sagt freundlich die Frau, die mir nun gegenübersitzt. Wir kommen ins Gespräch. Die Frau ist 60, Buchhalterin in einem großen Unternehmen und fährt seit der Wende täglich von Waren/Müritz zur Arbeit nach Berlin. „Von Tür zur Tür sind das zweieinhalb Stunden, eine Strecke, aber bei uns finde ich nichts anderes.“ Warum sie nicht nach Berlin ziehe? „Ach, Familie, Freunde, Garten – das gibt man nicht auf.“
Einen Lichtblick sehe sie aber, erzählt die Frau mit den müden Augen. „In zwei Jahren gehe ich vorzeitig in Rente.“ Zwar nehme sie hohe Abschläge hin. „Aber was nützt mir die volle Rente, wenn ich bald tot umfalle.“ Ihr Blick schweift zur niedrigen Decke des Doppelstockzuges. „Ich muss raus aus diesem fahrenden Bunker.“ RICHARD ROTHER