Berliner Szenen: Am Hermannplatz
Fußgänger-Alcatraz
Autos sind wichtiger als Fußgänger. Davon waren sie überzeugt, in den fünfziger, sechziger, siebziger Jahren, die Stadtplaner. Ich weiß das genau, weil ich so oft am Hermannplatz bin. Hier haben die Autos Auslauf und tosen lustig um eine Insel rum. Wer ohne Auto ist, ist auf der Insel gefangen, eine Art Fußgänger-Alcatraz. An Marktständen können sich die Fußgänger aber immerhin mit Wasser und Brot versorgen. Die Flucht von der Insel erleichtert ein U-Bahn-Tunnel.
Oberirdisch von hier wegzukommen ist dagegen ein Wagnis. Von einer bestimmten Stelle aus ist das rettende Ufer, der gegenüberliegende Bürgersteig, nur etwa dreißig Meter weit entfernt. Aber um dahin zu kommen, muss man sich erst mal vom Ziel wegbewegen und in einer Art Zickzacklauf fünf Ampeln überwinden, dann ist man da. Umgekehrt natürlich genauso.
Neulich ging ich mal wieder den Kottbusser Damm entlang, wollte nach Alcatraz und wartete an der ersten Ampel. Da sah ich eine Frau, die mit mir wartete. Sie knibbelte an der panzerdicken Aufkleberpatina der Metallstangen herum und löste so viel ab, wie man in einer Ampelphase runterbekommen kann. An der nächsten Ampel dasselbe Spiel. Ich sprach sie darauf an. Sie antwortete, dass man sich hier ja noch auf Neuköllner Terrain befinde. Und sie Neuköllnerin sei. Und das ganze Aufkleberzeugs finde sie widerlich, weil ein Aufkleber eine Flut von weiteren Aufklebern hervorrufe: „Wo einer wat hinklebt, kleben alle anderen gleich wat drüber“, sagte sie. „Ich mach immer ein bisschen wat ab.“ Jedes Mal, wenn die Frau an der Ampel steht, tut sie was für ihren Bezirk, indem sie die Verkehrsschilder und Ampeln ein bisschen sauberer macht.
Nun sehe ich den Hermannplatz mit anderen Augen: Der Weg von und nach Alcatraz steckt voller Rehabilitationspotenzial. Giuseppe Pitronaci
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