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Archiv-Artikel

Der Mann, vor dem man Respekt hat

Motörhead existieren seit dreißig Jahren. Die Band ist unverwüstlich, ihr Chef Lemmy Kilmister (59) eine Ikone. Ein Blick auf das Warzenschwein unter der Pickelhaube

von MAX DAX

Eigentlich hatte Lemmy Kilmister, der an und für sich Unzerstörbare, am 1. Juli dieses Jahres ins Berliner Grand Hotel Esplanade geladen, um aus Anlass des 30-jährigen Bestehens seiner Band Motörhead Interviews zu geben. Doch daraus wurde nichts. Kurz nach dem Aufstehen, am Nachmittag also, brach der unglaubliche 59 Jahre alte Sänger zusammen. Diagnose: Kreislaufkollaps. Doch Lemmy weigert sich beharrlich, einen Arzt in seine Suite vorzulassen. Die Dame von der Plattenfirma weiß für einen Moment nicht so recht, was sie tun soll. Dann sagt sie: „Der wird uns noch alle überleben.“ Und dann: „Er ist ja erwachsen.“ Und dann, als habe die Frage, was mit dem angebrochenen Nachmittag anzufangen sei, plötzlich Priorität: „Möchten Sie vielleicht einen Drink? Eine Zigarette?“

Eine ganze Woche verbrachte der letzte Übermensch des europäischen Heavy Metal dann doch noch in der Berliner Charité – vermutlich war es die längste Zeit, die Lemmy in den letzten drei Jahrzehnten in Ruhe und Obhut verbracht hatte. Denn seit Jahren schon prägen endlose Tourneen, Studioaufenthalte, Promotermine und Videodrehs den Alltag des Veteranen. Und natürlich Besuche in Spielhallen und Stripbars. Ein Spielerleben. Nur eine Vorstellung war noch unheimlicher und schockierender als ein an gelber Fettleber verendeter Sänger und Bassist der härtesten Rockband aller Zeiten: ein abstinent gewordener Sänger und Bassist der härtesten Rockband aller Zeiten. Doch dazu ist es bekanntlich, Gott sei Dank!, nicht gekommen.

„Dead Men Tell No Tales“

Als Lemmy zwei Monate nach dem Berliner Kollaps in Frankfurt am Main seine ausgefallenen Interviews in einem seltsam heruntergekommenen, verrauchten Grand-Hotel-Neubau in der Nähe der Europäischen Zentralbank nachholt, ist er blendend gelaunt.

Zur Begrüßung gibt die rechte Hand einen festen Händedruck, während die linke ein Glas mit Whiskey-Cola hält: „Sehen Sie, ich trinke wieder, das ist ein gutes Zeichen. Ein Mann muss trinken, sonst ist er mir suspekt“, sagt er und lässt sich dann in das kleine weiße Sofa an der Wand fallen. Übrigens nicht wie ein Sack, sondern mit Grazie. Und? Wie war das mit Ihrem Kreislaufkollaps? Ein langer, ausdauernder Blick in meine Augen, dann gibt er eine ganz ernsthafte, leise Antwort, in seiner überraschend hohen Stimme, in der so gar kein Grollen, nur ein wenig Krächzen mitschnarrt: „Das war kein Kreislaufkollaps. Dehydriert bin ich.“

„White Line Fever“

Auf dem niedrigen Glascouchtisch vor dem Sofa in seiner engen Suite stehen eine halb leere Flasche Jack Daniel’s, ein voller Aschenbecher, eine angebrochene Familienplastikflasche Coca-Cola sowie eine verchromte, fast ausgelöffelte Eiswürfelbox, die vom Zimmerservice im Verlauf des Gesprächs geräuschvoll durch eine neue ersetzt werden wird. Die Frau von der Plattenfirma ist abermals dabei. Später wird sie bemerken: „Wir bringen den Whiskey immer selbst mit. Das ist einfach eine Frechheit, was der in Hotels kostet.“

Lemmy trägt Schwarz, die Jeans sind sorgfältig in schwarze Bikerstiefel hineingesteckt, der Bauch spannt ein liebevoll mit Rosen besticktes, bis zum Bauchnabel offenes Cowboyhemd. Perfektioniert wird der Auftritt von einem dicken Gürtel, einer noch dickeren Gürtelschnalle, schwarz gefärbten Haaren und schwarz gefärbtem Bart.

„Built For Speed“

Am Heiligabend 1945 unter dem Namen Ian Fraser Kilmister in Stoke-on-Trent in der englischen Grafschaft Staffordshire geboren, lebt Lemmy seit Jahren in West Hollywood. 1975 gründete er Motörhead, nachdem ihm bei der legendären britischen Drogenrockband Hawkwind wegen Drogenproblemen gekündigt worden war. Wegen einer Hand voll Speed. Ausgerechnet!

„Motorhead“ war der Titel von Lemmys mit Abstand bekanntester Hawkwind-Komposition damals, vor allem aber passte die Bedeutung des Slangworts, denn „Motorhead“ war ein Synonym für „Speed Freak“ – also Raser, Bleifuß, Geschwindigkeitsrausch.

Genau dieses redundante Zeichenuniversum zeichnete Motörhead seitdem und bis heute ohne Unterbrechung aus: Speed und Lautstärke. Eine Zeit lang galten Motörhead als schnellste und lauteste Band der Welt (141 dB). Es dauerte fast zwanzig Jahre, bis die Spielverderber von Manowar am 8. März 1994 ausgerechnet in Hannover und dann auch noch unter Ausschluss des Publikums einen neuen Hallenrekord (160 dB) aufstellten.

Damit waren Motörhead, die in immer neuen Besetzungen und letztlich Lemmy Kilmister als einziger Konstante auftraten, jedoch nicht wirklich entthront. Keine Metalband hat es im Laufe der Jahre vermocht, der Grundidee der dreckigen Rockerband, deren Profil sich über ein anachronistisches Männerbild definierte, ein substanzielles neues Element hinzuzufügen. Selbst Metallica, die in die Fußstapfen von Motörhead getreten waren und alle kommerziellen Dämme eingerissen haben, werden weich, wenn man den Namen Lemmy erwähnt. Lemmy ist der Mann, vor dem man Respekt hat.

Seine Songs kreisen um Themen wie Glücksspiel, Fellatio, Saufen, Amphetamine, Autofahren, Krieg, Ungerechtigkeit, die da oben, wir hier unten, Horrorfilme, Fernsehen. In dem sensationellen Motörhead-Song „Just Cos’ You Got The Power“ von 1987 sang Lemmy: „Just cos’ you got the power doesn’t mean that you are right.“

„Ain’t My Crime“

Stimmt. Ausgestattet mit einem Bandlogo, das ein verchromtes Wildschwein mit Pickelhaube zeigt, frönt Lemmy zudem einem hierzulande nicht gerade wohl gelittenen Hobby: Er sammelt leidenschaftlich Nazi-Memorabilia, also Silberbestecke mit Hakenkreuzgravur, Wehrmachtfahnen, SS-Uniformen, Orden, Dolche und Stahlhelme.

Das Eiserne Kreuz, das Lemmy wiederholt um den Hals getragen hat, stammt hingegen aus dem Ersten Weltkrieg. Die Haltung dahinter ist militaristisch, machismo und eklatant oberflächlich. Darauf angesprochen, erklärt Lemmy: „Die Männer, die das Dritte Reich aufgebaut und regiert haben, waren keine Helden. Das waren Geistesgestörte in Fantasieuniformen. Ihre Ikonografie aber war genial. Die Geschichte beweist: Die schlimmsten Menschen waren oft die besten Designer. Vielleicht liegt es daran, weil sie die Einzigen sind, die sich um die Details kümmern?“ Eine Antwort wie ein Song von Motörhead – Zusammenhänge werden auf eine Frage der Ästhetik reduziert, Positionen auf ein Lebensgefühl. „Möchten Sie noch einen Drink?“

Im Gespräch offenbart der Waliser gleichwohl auch sehr kluge, differenziertere Einschätzungen: „Nehmen Sie Leni Riefenstahl: Sie choreografierte Nürnberg. Sie erfand die tanzenden Uniformen, den Menschen als Ornament. Früher fotografierte sie Reichsparteitage und die Olympiade in Berlin, heute bedienen sich Sportartikelhersteller ihrer Fotoästhetik. Ich sehe immer Hitler, wenn ich Werbung für Sneakers sehe.“

„The One To Sing The Blues“

Die Welt Lemmy Kilmisters ist eine harte, aber ehrliche Männerwelt. „Neben der Nazi-Ästhetik ist es die Ästhetik der Cowboys, die es mir am meisten angetan hat“, schwadroniert er, um kurze Zeit später klarzustellen: „Der Mensch ist ja auch nicht erschaffen worden, um Gemüse zu essen. Wozu haben wir sonst Eckzähne? Hinzukommt, dass unser Verdauungssystem nicht dazu konzipiert wurde, nur Grünzeug zu essen. Vegetarier furzen den ganzen Tag lang. Hitler war Vegetarier. Noch Fragen?“ Lemmys Zigaretten sind amerikanische Marlboro, Softpack.

Schätzen Sie Westernfilme?

„Ich schätze Kirk Douglas. Er war übrigens ein Jude polnischer Abstammung. Und Sam Peckinpah. Keiner hat vor ihm so überzeugend dargestellt, wie es ist, wenn man von einer Kugel getroffen wird – verdammt blutig! Wenn ich auf Sie mit einer 44er schießen würde, dann würden Sie nicht wie ein sterbender Schwan niedersinken. Sie würden an der Wand kleben und hätten ein großes Loch in Ihrer Brust. Alles müsste sauber gemacht werden.“

Repräsentiert der Cowboy einen Idealtypus von Mann?

„Ein Mann geht nicht auf die Knie vor jemandem. Ein Mann gibt nicht auf. Ja, das ist die Ikonografie des Westerns. Alamo. 28 Männer gegen 5.000 verfluchte Mexikaner. Die Menschheit wird sich immer daran erinnern. Und wissen Sie, was das Beste ist? Gegenüber von The Alamo steht heute eine Filiale von Woolworth! Hahaha!“

„Killed By Death“

Es ist übrigens nicht verkehrt, sich regelmäßig Konzerte von Motörhead anzugucken – der Besuch derselben hat etwas Kathartisches, Aderlasshaftes, Versöhnendes. Kaum ein Publikum ist friedlicher und freundlicher als die Rockermassen bei Motörhead-Shows. Das mag auch an den Folgen der Wiederholung liegen: Den Begriff „wertkonservativ“ jedenfalls lassen Motörhead in einer ganz neuen Phonstärke erklingen.

Und schon sind also dreißig Jahre vergangen. Gingen vorbei wie Tage im Speedrausch. Am 24. Dezember 2005 wird Lemmy sechzig Jahre alt. Letztes Jahr verschwand er nach seinem ausverkauften Hamburger Konzert jenseits der Reeperbahn – und freundete sich in einer Spielhalle mit einem einarmigen Banditen an. In Motörheads mit Abstand bekanntesten Song „The Ace Of Spades“ heißt es: „You know I’m born to lose, and gambling’s for fools / But that’s the way I like it baby / I don’t wanna live for ever“. Zeit für die letzten drei Fragen an Lemmy nach dreißg Jahren im Hardrock-Business.

Lesen Sie die Bibel?

„Nicht, dass ich sie täglich mit mir herumtragen würde.“

Ihre Lebensphilosophie?

„Niemals kapitulieren. Denn das Einzige, was du hast, wenn du aufgibst, ist das Nichts. Kapitulation ist eine schlechte Option.“

Haben Sie Angst vor dem Tod?

„Nein. Der gehört dazu. Und je älter wir werden, desto größer wird die Wahrscheinlichkeit, dass er eintritt. Das ist alles Empirie. Ich bin nicht mehr 21 Jahre jung. Und ehrlich gesagt bin ich lieber 59 und weise als 21 und hohl.“