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Archiv-Artikel

Eine Flasche Pfeffi, Kippen und Mitleid

Unterwegs an Heiligabend

Wenn alle, die man kennt, anwesend sind, gibt es niemanden mehr zum Chatten. Ein schönes Gefühl

Der türkische Kioskbesitzer in der Rigaer Straße weiß anscheinend selbst nicht so genau, ob er mir noch ein „Frohe Weihnachten“ hinterherrufen soll, und entschließt sich dementsprechend zu einem unverständlichen Hüsteln. In seinen Augen ist eine Art Mitleid zu erkennen, wahrscheinlich bin ich der erste Kunde seit Stunden, und dann bestelle ich auch noch eine Flasche Pfeffi und eine Schachtel Zigaretten. Das riecht nach Einsamkeit, und so etwas soll es ja geben in Berlin.

Der Kioskbesitzer stellt sich wahrscheinlich vor, wie ich allein zu Hause sitze und mir Scripted-Reality-Shows auf RTL anschaue, um sicherzugehen, dass es noch weitaus schlimmere Familienverhältnisse gibt. Wenn man seinen Twitter-Meldungen glauben darf, praktiziert Bushido das seit Jahren durchaus erfolgreich. Dabei ist alles halb so schlimm. Meine Familie wohnt lediglich im Ausland, kein Grund zur Sorge.

Und dann gibt es ja auch noch Markus aus Friedrichshain, der jedes Jahr die Familienablehnenden aus unserem Freundeskreis zu einem Zehn-Gänge-Menü einlädt. Ich begehe den Fehler, den vierten Gang bereits für den vorletzten zu halten, und schlinge gleich zwei Portionen des Meeresfrüchte-Ragout-fins runter, was sich später rächen wird. Denn der nächste Gang besteht aus Ente, Wildschwein, Stubenhühnchen und Gratin. Das kann man doch wirklich nicht als einen Gang deklarieren, hier wurden wir arglistig getäuscht.

Nach dem einen oder anderen Wodka bestelle ich einen Gabelstapler, der uns zum Bassy Club fahren soll, der Taxidienst kann allerdings nur mit einem Großraumtaxi dienen. Die Menschen, an denen wir vorbeifahren, sind entweder Verdauungsspaziergänger oder Jugendliche, die sich freuen, endlich die Großeltern losgeworden zu sein, und die das Weihnachtsgeld derselben in die Clubs der Stadt investieren wollen.

Angekommen im Bassy, beginnt der alljährliche Begrüßungsmarathon. Es ist ein Ort der vollen Bäuche und der glasigen Augen. Man fällt sich in die Arme und freut sich, nachdem man sich ein ganzes Jahr nicht gesehen hat. Teilweise liegt das gar nicht mal an der Tatsache, dass man sich nie über den Weg läuft. Wie sagte doch letztens jemand, an dessen Gesicht ich mich nicht erinnere: „Ich habe mehr Freunde an das Iphone verloren als an die Drogen!“ Das sollte einem zu denken geben.

Heute ist das anders. Wenn alle, die man kennt, tatsächlich anwesend sind, gibt es niemanden mehr, mit dem man chatten könnte. Ein schönes Gefühl. JURI STERNBURG