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Der Politik Druck machen

Medien Die „TrokkenPresse“, die Berliner Zeitschrift für Alkoholabhängige und trockene AlkoholikerInnen, wird 15 Jahre alt. Zuerst war sie nicht viel mehr als ein Faltblatt. Heute kommen Bestellungen aus ganz Deutschland

Jubiläum: Suchtberaterin und Ärztin Dagmar Heidt-Müller hat die „TrokkenPresse“ vor 15 Jahren aus der Taufe geboben Foto: Joanna Kosowska

von Peter Weissenburger

Die erste Ausgabe hatte genau vier Seiten. Dagmar Heidt-Müller zieht vorsichtig ein Exemplar aus dem Archivordner. Genau genommen ist es nichts weiter als ein A3-Bogen, schwarzweiß bedruckt, gefaltet: Die Nummer eins der TrokkenPresse, der Berliner Zeitschrift für Alkoholabhängige und trockene AlkoholikerInnen.

Das war vor genau 15 Jahren. Die Idee, eine Zeitung zum Thema Alkoholabhängigkeit zu gründen, kommt Dagmar Heidt-Müller im Jahr 2001 aus dem Bedürfnis heraus, „nicht hinzunehmen, wie die Dinge laufen“. Als Leiterin der Suchtberatungsstelle in der Schöneberger Goebenstraße hat sie nicht nur täglich mit Betroffenen zu tun, sondern auch mit der Suchtpolitik.

Die Ärztin ärgerte sich darüber, dass es nicht genug Anlaufstellen für Alkoholkranke in Berlin gab. AlkoholikerIn ist man ein Leben lang, auch wenn man abstinent ist. Um trocken zu bleiben, braucht man Unterstützung. Davon gab es aber viel zu wenig, fand Heidt-Müller. „Wir waren damals die einzige ambulante Beratungsstelle in ganz Tempelhof-Schöneberg.“

Heidt-Müller erkundigte sich und stellte fest, dass die Stadt weniger finanzielle Zuwendungen an die Alkoholprävention als an Drogenberatungsstellen gibt. „Dabei leben in Berlin mehr als dreimal so viele Alkoholiker wie Drogensüchtige.“ Heidt-Müller schloss daraus: Die legale Droge Alkohol wird nicht genug problematisiert. Diesem Schweigen wollte sie eine Zeitung entgegensetzen.

Allein konnte sie das freilich nicht. Heidt-Müller rekrutiert unter Betroffenen, die sie aus der Suchtberatungsstelle kennt, HelferInnen und AutorInnen für ihr Projekt. Über einen Bekannten, der bei einem Veranstaltungsmagazin arbei­tet, kann sie die erste Ausgabe umsonst drucken lassen. Es sind die vier Seiten aus dem Mai 2001, die sie beim Gespräch mit der taz in den Händen hält: vorne ein wütendes Manifest gegen die Missstände in der Suchtprävention, hinten Adressen von Anlaufstellen für Beratung und Entzug. Halb Politik, halb Service. Die fertige Zeitung gibt sie an Beratungszentren und Kliniken. Die TrokkenPresse ist geboren.

Prominente als Vorbilder

Aber die vier Seiten reichen Dagmar Heidt-Müller noch nicht. Sie bleibt umtriebig, will eine richtige Zeitschrift aufbauen. Von ihrem Arbeitgeber, der Psychosozialen Beratungsstelle für Alkoholabhängige, holt sie sich finanzielle Unterstützung. Sie interviewt den Fernsehschauspieler Jaecki Schwarz, bekannt aus „Polizeiruf 100“, spricht mit ihm über seine Abhängigkeit. Die Idee: Promis, die Erfahrung mit Sucht und Abstinenz gemacht haben, sollen als Vorbilder fungieren. „Das ist sehr effektiv gegen Scham und Schuldgefühle, die bei Alkoholsucht zentral sind“, sagt Heidt-Müller.

Später kommen immer wieder Stars und Sternchen in der TrokkenPresse zu Wort. Besonders gern erinnert sich Dagmar Heidt-Müller an ein Interview mit Filmschauspieler Bruno Ganz im Jahr 2009: „Wir haben seine Nummer rausgekriegt, wussten aber nicht, ob er zusagen würde. Dann kam er sogar extra vorbei.“

TrokkenPresse

Die TrokkenPresse – Zeitschrift für Abhängige und Unabhängige ist ein Berliner Magazin für Alkoholabhängige und trockene AlkoholikerInnen. Mit der aktuellen Februar/März-Ausgabe feiert das Blatt sein 15-jähriges Jubiläum. Gegründet von der Suchtberaterin Dagmar Heidt-Müller erschien das erste Exemplar im Mai 2001.

Die TrokkenPresse erscheint aktuell mit einer Auflage von 2.000 Stück und kostet 1 Euro. Die Zeitschrift liegt in Suchtberatungsstellen und Entzugskliniken aus, vorwiegend in Berlin und Brandenburg, aber vermehrt deutschlandweit. Das Projekt wird von der Psychosozialen Beratungsstelle für Alkohol- und Medikamentenabhängige (PBAM) gefördert. Die Redaktion sitzt in Schöneberg. (pwe)

Heute ist die Zeitung in Farbe, 35 Seiten stark und erscheint zweimonatlich in einer Auflage von 2.000 Stück. Bestellungen kommen inzwischen aus ganz Deutschland. Das Hauptquartier des TrokkenPresse-Verlags ist ein Ladengeschäft in der Nähe der Suchtberatungsstelle Goebenstraße, die die Zeitung auch finanziell unterstützt. Außer Dagmar Heidt-Müller, die sich über ihr Alter ausschweigt, gehören zur Redaktion Torsten Hübler und Anja Wilhelm, beide 53.

Torsten Hübler kennt die Gründerin und Chefredakteurin aus der Zeit, als er selbst alkoholabhängig war und regelmäßig die Beratungsstelle Goebenstraße besucht hat. Nachdem er trocken war, fing er in der Redaktion an. Anja Wilhelm ist vor einem Jahr dazugekommen. „Das war nach meiner Entgiftung“, erzählt sie. „Ich habe in der Klinik die TrokkenPresse gelesen. Als es so weit war, dass ich wieder an meine Zukunft denken konnte, habe ich mich beworben.“

Mangelhafte Ausstattung

Die Unterzeile der TrokkenPresse lautet „Zeitschrift für Abhängige und Unabhängige“. Jede Ausgabe enthält Erfahrungsberichte, Ratgebertexte zum Thema Sucht sowie Adressen von Beratungsstellen und Notaufnahmen. Aber die Zeitung ist mehr als ein Service­blättchen. Der Anspruch von Dagmar Heidt-Müller und ihrer Redaktion ist, den Verantwortlichen in der Politik und in der Klinikwirtschaft auf die Nerven zu gehen.

An der mangelhaften Ausstattung in der Alkoholprävention habe sich nämlich in den letzten 15 Jahren nicht viel geändert. „Gut, wir haben jetzt immerhin zwei Suchtberatungsstellen im Bezirk“, sagt Heidt-Müller. Gleichzeitig aber würden die stationären Angebote zurückgefahren. „Die Kliniken verkürzen aus Kostengründen ihre Entgiftungszeiten.“ Wer einen stationären Entzug machen will, habe dafür höchstens noch eine Woche, nach dieser Zeit würde man wieder sich selbst überlassen.

Zu kurzer Entzug

Aus Sicht der Ärztin ist das unverantwortlich: „Man muss jemandem für den Entzug schon zwei bis drei Wochen Zeit geben, sonst ist die Rückfallgefahr viel zu groß.“ Die TrokkenPresse-Redaktion macht deshalb jetzt eine Umfrage bei allen Berliner Kliniken und Beratungsstellen und bei den Krankenkassen, um einen Überblick zu bekommen, wie lange in Berliner Kliniken noch entgiftet wird. Die Redaktion stößt nicht überall auf große Bereitschaft: „Einige Häuser machen immer wieder Ausflüchte, warum sie uns angeblich nichts sagen können. Meistens ist der zuständige Chefarzt gerade im Urlaub“, sagt Torsten Hübler.

Die Redaktion weiß, was Alkohol mit den Menschen macht, aus eigener Erfahrung

Es sei schwer, für das Thema Alkoholsucht mediale Aufmerksamkeit zu bekommen, finden die RedakteurInnen. „Bei illegalen Drogen ist das anders, die muss nur ein Politiker zufällig in der Tasche haben, dann ist das gleich im Gespräch“, sagt Dagmar Heidt-Müller. „Dann druckt die Süddeutsche Zeitung Vorher-nachher-Bilder von Crystal-Meth-Abhängigen: Schaut her, was diese Droge mit den Menschen macht! Was Alkohol mit Menschen macht – wer weiß das schon?“ (siehe Seite 22)

Die Redaktion weiß, was Alkohol mit den Menschen macht, aus eigener Erfahrung. Ihr Ziel ist, der Politik Druck zu machen und Betroffenen Wissen zu vermitteln.

Abo-Tendenz steigend

Bei ihrer eigenen Zielgruppe zumindest kommt das gut an: Die Zeitung ist bei Betroffenen und bei Kliniken gefragt, daneben gibt es sogar um die 500 Dauerabos, Tendenz steigend. Über den Kaufpreis von einem Euro, Anzeigen und die Zuschüsse von der Suchtberatung kann sich die Redaktion problemlos finanzieren – die TrokkenPresse muss sich momentan keine Sorgen um das Zeitungssterben machen. Im Gegenteil, Anja Wilhelm denkt ans Expandieren: „Wer weiß, vielleicht gibt es uns demnächst am Kiosk.“

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