Seelenverwandte Die große Patti Smith erzählt ihr Leben weiter und gedenkt ihrer toten Vorbilder und Helden: „M Train“
: Ein Hekatombe für Bolaño

Ode ans Outsiderdasein: Patti Smith vor ihrem Haus in New York Foto: Philip Montgomery/NYT/laif

von Jens Uthoff

Ganz schön viele Gräber hat man besucht, wenn man dieses Buch zugeklappt hat. Frida Kahlos Ruhestätte in Mexico City, ein schmuckloser Stein für Sylvia Plath in Leeds, eine Gedenktafel für Regisseur Akira Kurosawa in Japan: nur einige der Erinnerungsorte, die Patti Smith aufsucht, um für die toten Künstler – ja – zu beten, mit ihnen postum in Dialog zu treten, und um schreibend an ihre Lebensentwürfe, an die Kraft ihrer Werke zu erinnern.

„Erinnerungen“ lautet der Untertitel des neuen Buchs der New Yorker Post-Hippie- und Prä-Punk-Ikone Patti Smith. Eines der großen Themen von „M Train“, dem dritten auf Deutsch erscheinenden Prosawerk der Musikerin und Künstlerin, sind in der Tat biografische Annäherungen an verstorbene Dichter und Künstler. Ebenfalls mit Memoiren – mit der Beschreibung ihrer besonderen Beziehung zum Fotografen Robert Mapplethorpe – gewann Patti Smith 2010 zu Recht einige Literaturpreise in den USA. „Just Kids“, so der Titel, las sich wie eine schöne Ode an das Outsiderdasein.

In „M Train“, das von auf Reisen aufgenommenen Pola­roids ergänzt wird, taucht wieder ein Geistesverwandter, wie Patti Smith ihn wohl nennen würde, auf: Mit dem MC5-Gitarristen Fred „Sonic“ Smith war sie bis zu dessen Tod 1994 verheiratet, sie haben zwei gemeinsame Kinder (Jackson und Jesse) – über die man aber sehr wenig erfährt.

Und wieder ist es auch ein Boheme-Buch, denn neben den Erinnerungen spielen Smiths Vorliebe für das Schreiben in New Yorker Cafés und vor allem ihre Lektüreerfahrungen eine Rolle. Patti Smith liest und verehrt Wittgenstein und Camus, Hesse und Genet, Bruno Schulz und Haruki Murakami – und noch viele mehr. Zum Teil vermischt sie die Ebenen von Romanhandlungen (“Mister Aufziehvogel“) mit ihrer eigenen biografischen Erzählung.

In den 18 Kapiteln gibt es zudem obskure Exkurse, Smith berichtet etwa von ihrer Mitgliedschaft in einem gewissen Continental Drift Club, der sich den Errungenschaften des Geowissenschaftlers Alfred Wegener verschrieben hat.

Viel Stoff also für eine episodische Biografie – und so, wie Smith sie schreibt, definitiv zu viel. Zwar sollen einige Erzählstränge durch das Buch führen: einmal ein imaginärer Cowboy, der mehr Geist als Über-Ich des Smith’schen Alter Egos ist, und eben die Erinnerungen an den Ehemann; beide Stränge führen gegen Ende gar zusammen. Auch ihre Leidenschaft für Krimiserien greift sie immer wieder auf. Das wirkt aber wie ein künstliches Zusammenhalten von etwas, das an allen Ecken und Enden zerbröselt. Die Bezüge bleiben im Raum stehen wie eine Sammlung von Impressionen. Auf die nichts folgt. Die Kapitel bilden auch in sich nichts Geschlossenes, eine der wenigen Ausnahmen ist das vorletzte Kapitel, in dem Patti Smith sich fragt, was sie an Krimiserien derart begeistert, und in dem sie auch mal Antworten sucht.

Über das Maß des Erträglichen hinaus geht der esoterische und christliche Touch. Es wimmelt von Prophezeiungen, von inneren und äußeren Stimmen, von Zeichen und Wundern – ob es die strahlende Kraft von Steinen ist oder Signale, die von den Seelen ausgehen. Als Positivist sollte man das Buch nicht unbedingt lesen.

Schlimm wird es, wenn Smith ethnisierend argumentiert. Als Ehemann Fred, der wohl aus einer indigenen Familie stammt, vor seinem Tod ins Hospital gebracht wird, schreibt sie: „Fred war überzeugt, wenn er jemals in ein Krankenhaus käme, würde er es nicht mehr verlassen. Sein indianisches Blut spürte solche unerklärlichen Dinge.“ Selbst wenn eine solche Zuschreibung von Fred Smith selbst gekommen sein sollte – really, Mrs. Smith?

All das ist schade, weil Patti Smith’neue Memoiren mit „Just Kids“ – damals war der Hang zum Kitsch bei Weitem nicht so ausgeprägt – so einen tollen Vorgänger hatten. Es ist auch deshalb schade, weil „M Train“ sprachlich schön ist und einige richtig tolle Passagen enthält. In einer Silvesternacht etwa sitzt Patti Smith zu Hause in New York, ein Gedicht schreibend; eine Hekatombe, einen Hundertzeiler für den ebenfalls verehrten chilenischen Schriftsteller Roberto Bolaño.

Sie scheitert an der Zeilenmaßgabe, geht doch noch in die Neujahrsnacht hinaus – wo sich Folgendes abspielt: „Ein paar betrunkene Kids, vermutlich aus New Jersey, sprachen mich an. ‚Was sagt die Scheißuhr?‘ – ‚Zeit zu kotzen‘, antwortete ich. – ‚Sag das nicht vor ihr, sie macht das schon den ganzen Abend.‘“ Diese Coolness und Lakonie allerdings bleibt die Ausnahme.

Patti Smith: „M Train. Erinnerungen“. Aus dem Englischen von Brigitte Jakobeit. Kiepenheuer & Witsch, Köln 2016. 336 S., 19,99 Euro