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: Filmreifer Ausbruch

„The Wolfpack – Mitten in Manhattan“ (USA 2015, Regie: Crystal Moselle)

„Es ist wie im Kino, und es ist auch nicht wie im Kino“, sagt einer der Angulo-Brüder. Er meint damit das Leben in der Stadt, den Alltag der anderen. Er selbst kennt es nur aus dem Kino.

Der Vater der Jungs hat sie (und eine geistig behinderte Schwester) jahrelang so gut wie nie aus der Wohnung in der ­Lower East Side gelassen. Er hat es ihnen zuliebe getan, sah drinnen mehr Freiheit für sie als draußen in der Stadt mit ihren Drogenabhängigen und Verbrechern. Sein Traum: Genug Geld zu verdienen, um nach Skandinavien zu ziehen. Dazu Hare Krishna, Alkoholsucht, missio­narischer Eifer, Homeschooling durch die sanftere, aber zu schwache Mutter. So machte er den Kindern das Leben zur Hölle.

Seltsame Hölle

Eine seltsame Hölle. Sie haben Hunderte, Tausende Filme gesehen, von „Casablanca“ bis „Herr der Ringe“, ganz besonders angetan hat es ihnen allerdings Quentin Tarantino. Sie haben die Dialoge auswendig gelernt. Sie haben sich Perücken gebastelt, Kleider geschneidert, Waffen aus Pappe und Klebeband zusammengeleimt, und so spielen sie Szenen aus „Reservoir Dogs“ oder „Pulp Fiction“ nach. Ziemlich gut machen sie das übrigens, das Leben, das sie nicht kennen, haben sie durch das gekonnte Reenacten überlebensgroßer Filme ersetzt.

Die Filmemacherin Crystal Moselle ist auf der Straße auf die Angulo-Brüder gestoßen. Lange Haare, Ray-Bans, schwarze Anzüge, wie eine merkwürdige Version von „Reservoir Dogs“. Da hatten sie nach all den Jahren den Ausbruch gewagt. Als einer von ihnen, der allerdings mit einer furchterregenden Maske durch die Straßen zog, von der Polizei aufgegriffen und in die Psychiatrie gesteckt wurde. Der Albtraum des Vaters, für die Söhne aber der Beginn der Befreiung. In Rückblenden und über einige Monate währender, das Leben der Familie begleitender Dokumentation erzählt Moselle diese Geschichte. Es gibt Videoaufnahmen aus früheren Jahren, die Kinder spielen auch da schon Filmszenen nach und man sieht sie in schaurigen Kostümen Thanksgiving feiern.

„Hättest du uns“, sagt einer von ihnen im Gespräch mit Moselle, „ein Jahr früher kennengelernt, hättest du uns schweigend erlebt, wir waren im Umgang mit anderen Menschen wie Zombies.“ Darum erzählt „The Wolfpack“ eine Emanzipations- als Entzombiefizierungsgeschichte, die aus Höhlenfinsternis in die Normalität führt. Aus Wolfskindern, die jeden direkten Zugangs zur Welt beraubt waren, werden aus eigener Kraft Menschen, die Ausflüge nach Coney Island machen, sich von ihren langen Haaren befreien, ins Grüne fahren, in New York Jobs suchen und finden. Der Älteste von ihnen zieht schließlich aus.

Moselle setzt in „The Wolfpack“ ganz auf die Nähe zu den sechs Jungen und rückt die Mutter und vor allem den Vater, der lange gar nicht in den Gegenwartsbildern zu sehen ist, konsequent an den Rand. Sie lässt die Angulo-Söhne spielen und sprechen, gibt ihnen das Wort. Sie sind artikuliert, reflektiert, auf Distanz zur Wirklichkeit, der sie sich vielfach nur in der gekonnten Imitation nähern: Einmal sieht man, wie der Älteste die ihm eigentlich gemäße Teenagersprache mit viel „awesome“ und „like“ zwar perfekt nachahmen, aber sich nicht aneignen kann. Das ist die eigentlich spannende Frage: Führt von der reflexiven Film-Reenactment-Distanz ein Weg zurück in die Normalität des Alltags?

Ekkehard Knörer

Die DVD ist ab rund 15 Euro erhältlich