ABC Es gibt kein Thema, über das man kein Lexikon anlegen kann. taz-Autor Helmut Höge kennt sie alle: Lexikon, das (Mehrzahl: Lexika oder Lexiken): Bezeichnung für ein Nachschlagewerk oder Wörterbuch*
Höge, Helmut: taz-Autor, Aushilfshausmeister und Universalgelehrter. Trägt als einziger taz-Mitarbeiter immer einen Anzug. Sammelt Lexika. Hier reist er mit uns durch sein Bücherregal.
In Diderots „Enzyclopédie“ wird das Projekt definiert als „ein Plan, den man sich vorgibt, um ihn zu realisieren“. Heute leben wir, so wird nun gesagt, in „nachgesellschaftlichen Projektwelten“. Selbst die Ehe ist inzwischen ein „Projekt“. Mit den „Projekt-Lexika“ oder „Lexika-Projekten“ sind jedoch keine Übersichten über solche Projekte gemeint, die es wegen ihrer Fülle und Kurzlebigkeit auch gar nicht geben kann, sondern Lexika als ein (mehr oder weniger kurzfristiges) „Projekt“.
Die mehrbändigen Lexika dagegen, das waren keine Projekte, sondern äußerst langfristige Unternehmen, für deren Einträge Wissenschaftler aus allen möglichen Fachrichtungen herangezogen wurden. Diese großen Lexika hat man inzwischen fast alle eingestellt. Sie sind bereits aus den meisten privaten Bücherregalen verschwunden, ersetzt durch Wikipedia, Internet-Wörterbücher und Interessens- und Betroffenen-Foren.
Der große Stockraus
Aber schon kommen die ersten neuen Lexika auf den Markt: Die Welt-Lexika geben auf, die Provinz-Lexika fangen an. Diesen haben nicht mehr den Anspruch der „Restlosigkeit“, sondern wollen das „Klein-Werden schaffen“ (Deleuze). Da wäre zuvorderst der „Große Stockraus“ von Henner Reitmeier aus Waltershausen zu nennen. Der Autor hatte sich über den fünfbändigen Brockhaus, den er 1971 erwarb, so geärgert, wegen all der darin enthaltenen „Verzerrungen/Auslassungen/Lügen“, dass er ein einbändiges „Relaxikon“ mit seiner Gedanken- und Lebenswelt, alphabetisch geordnet, herausgab.
Es beinhaltet seine Lieblingsautoren und -vögel ebenso wie einige noch nicht existierende Einrichtungen: das „Misfitness-Center“ zum Beispiel, sowie mehrere schwer abzugewöhnende Gewohnheiten: das „Rauchen“, etliche persönliche Macken wie das „Fluchen“ und den „Hochmut des Alters“.
Das ist es: Der Atlas stellt zahlreiche nicht anerkannte Länder vor, skurrile und bedeutende.
A–Z: Abchasien bis Zirkassien.
Gelernt: Forvik ist eine kleine, 0,01 km² große Insel zwischen Großbritannien und Norwegen. Der einzige Einwohner ist Staatsgründer Stuart Hill.
Für alle, die schon immer mit ihren Geografiekenntnissen angeben wollten.
Bibliografie: Nick Middleton: „Atlas der Länder, die es nicht gibt“. Quadriga Verlag 2016, 32 Euro.
Trotz vieler privater Vorlieben, wie „Landkommunen“, „Musik“ und „Thälmanns Enkelin“ ist der Große Stockraus ein echtes Lexikon, mit ausführlichem Register und, ja, auch Welthaltigkeit. Für meinen Geschmack sogar zu viel, denn der Autor lebt quasi auf dem Land und ich erwartete von ihm, dass er zwar noch im kleinsten zerdärmten Frosch am Feldrain die Abwesenheit Gottes erkennt und meinetwegen beklagt, aber solche Ochsenfrosch-Eintragungen wie „Gerhard Schröder“ und „George Bush“ getrost dem „Bild“-Lexikon des Springerstiefelverlags überlässt.
Das Alphabet der polnischenWunder
Dann das „Alphabet der polnischen Wunder“ von der sibirischen Goethe-Institutsleiterin Stefanie Peter. Es gibt Antworten auf viele Fragen: Warum heißen die Straßenbahnen in Krakau Helmuty? Warum bekleiden die Pampers Schlüsselpositionen in den öffentlich-rechtlichen Medien? Warum gelten Dresiarzy, Trainingsanzugträger, als Protagonisten der polnischen New Economy? Ferner: Was war das Wunder an der Weichsel? Was hat es mit den Kresy, dem Handkuß und der Westerplatte auf sich? Warum ist der polnische Jazz so intellektuell, der Berlin-Warszawa-Express so beliebt und der Club der polnischen Versager so erfolgreich?
Des weiteren: die „Spurensuche in Mitteldeutschland“ von Joachim Krause aus Meerane. Dieses Lexikon informiert alle von antikommunistischem Westschmäh benebelten Zuspätgeborenen über wichtige DDR-Biographeme: von „Aufbruch“ und „Feindberührung“ über „Flugblätter“ und „Kartoffelkäfer“ bis „Zeltplatzleben“.
Darüber hinaus enthält das Buch aber auch über ein kleines Schwan-Experiment: Der Autor hatte mit seinem Sohn an einem See ein Schiff gebastelt. Als sie es mit einem weißen Stück Papier als Segel ausstatteten, kam von der anderen Seeseite ein Schwan angerauscht, der dort seine brütende Schwänin bewachte. Er hielt das Papier für einen Nebenbuhler. Erst kurz vor dem kleinen Boot erkannte er seinen Irrtum und schwamm beruhigt zurück zum Nest. Joachim Krause wollte es nicht glauben, dass Schwäne derart auf ein bloßes Stück Papier reagieren, und wiederholte das Experiment am nächsten Tag. Prompt kam der Schwan erneut zum Kampf bereit angeschwommen.
Das aufdringliche Erscheinen hat auch der westdeutsche Bauernsohn Henning Ahrens in seinem „Provinzlexikon“ thematisiert, indem er akribisch alle Allerweltsideen, die in seinem ländlichen Lebensraum realisiert wurden, von A bis Z registrierte: „Baumärkte“, „Canapees“, „Fußgängerzonen“, „Mehrzweckhallen“ und „Nagelstudios“.
Lexikon der Tier-Mensch-Beziehungen
Daneben präsentiert Ahrens modernstes Rübenbauernwissen, denn sein Cousin besitzt eine Flotte der Rübenroder genannten Erntemaschinen. Der Perlentaucher lobte: „Er hat sich in 274 Stichworten Gedanken über die Provinz gemacht. So schreibt er über die Geduld erfordernde Bahnschranke ebenso wie über die Dorfschönheit.“ Der Klassiker des antikolonialen Befreiungskampfes auf dem Territorium der BRD, Herbert Achternbusch, hat 1981 gemeint: „Da, wo früher Rübenberge und Weilheim war, ist jetzt Welt...Die Welt hat uns vernichtet, das kann man sagen.“
Aber es gibt neben diesen „vernichteten“ noch andere Provinzen, und zwar immer mehr. Es sind geistige, die nun lexikalisiert werden. Zum Beispiel das „Lexikon der Mensch-Tier-Beziehungen“ von Arianne Ferrari und Klaus Petrus. Sie und ihre über 100 Autoren kommen großteils aus dem hierzulande erst noch durchzusetzenden Forschungszweig Human Animal Studies, der sich aus den Feminismus- und den Gender-Studies entwickelte. In ihrem Lexikon – von A wie Anarchismus bis Z wie Zoophilie – gibt es die unterschiedlichsten Stile, einige erinnern noch an Einträge in „Meyers Konversations-Lexikon“.
Die allgemeine Stoßrichtung des 480-Seitenwerkes ist der Tierschutz. Mehrere Autoren, darunter die Herausgeberin der Berliner Zeitschrift „Tierstudien“, beteiligten sich auch noch an einem anderen Lexikon aus einem bereits etablierten Forschungsbereich: der Kultur- und Medienwissenschaft. Es heißt schlicht „Tiere“ und will ein „Kulturwissenschaftliches Handbuch“ sein. In ihm hat der „Tierschutz“ nur eine Eintragung, in dem, ebenso wie in den Einträgen über „Tierversuche“ und „Zoo“, relativ ausführlich aber oft etwas schematisch deren „Geschichte“ thematisiert. Herausgeben hat es der Literaturhistoriker Roland Borgards, die Eintragungen stammen von 26 Autoren, von denen sich etliche schon länger mit Cultural Animal Studies beschäftigen, was leider nicht zwingend eine Beschäftigung mit realen Tieren bedeutet.
Auch die lexikalische Geschichte „Ornithomania“ des Schriftstellers Bernd Brunner handelt nicht von Tieren, sondern von Tiernarren, genauer gesagt: Es sind Kurzporträts von mehr oder weniger exzentrischen Vogelliebhabern (siehe taz vom 16.2.2016).
Das ist es: Das Nachschlagewerk zeigt unsere bekannten und unbekannten Leiden.
Gelernt: Das Handschuh-Socken-Syndrom verursacht Ausschlag an Händen und Füßen und führt zu Muskelschmerzen und leichtem Fieber.
A–Z: Abort bis Zystitis.
Für alle, die in ihrem Körper lesenwie in einem Buch.
Bibliografie: Gholamreza Darai et al.: „Lexikon der Infektionskrankheiten des Menschen“. 4. Auflage, Springer Medizin Verlag 2012, 219 Euro.
Auch das Autorenkollektiv des „Wörterbuchs kinematografischer Objekte“ beschäftigte sich mit Tieren. Eine Anekdote über den Umgang mit ihnen im Film kann das verdeutlichen: „Warum sie denn keine echten Kühe benutzen, fragt der Streber Martin Prince in einer Episode der Simpsons einen Requisiteur, der auf einem Set ein weißes Pferd mit schwarzen Farbflecken bemalt. ‚Kühe sehen im Film nicht wie Kühe aus, da muss man Pferde nehmen‘, lautet die Antwort. Und was macht man denn, wenn man tatsächlich Pferde filmen will? ‚Da binden wir meistens nur ein paar Katzen aneinander‘.“
Inzwischen sind über die Massenmedien derartig viele Tiere namentlich bekannt geworden, dass Karen Duve und Thiess Völker ein ganzes „Lexikon der berühmten Tiere“ zusammenstellten. Das Spektrum reicht von Lassy, Fury und Flipper bis zu Winnie-the-Pooh, Yogi Bär und Micky Maus. Hier wird also nicht mehr zwischen vermeintlich realen und virtuellen Tieren unterschieden. Der Deutschlandfunk befand: „Ein Tier, so kann man nach 670 Seiten durchaus erschöpfender Lektüre sagen, ist kein Tier, sondern ein veränderbares Konzept.“
Handbuch des kleinenZoosystemikers
Das scheinen die Politiker auf ihren Weltkonferenzen auch vom Klima anzunehmen. Die Klimaforscher des Helmholtz-Zentrums Geesthacht (darunter der Mitbegründer des deutschen Donaldismus, also ein Entenhausenforscher) warnen bereits vor einer „Klimafalle“, der ein Teil der Klimaforscher der bürgerlichen Politik beratend auf den konzeptuellen Leim geht. Nun hat jedoch die Geographin Sybille Bauriedl ein „Wörterbuch Klimadebatte“ herausgegeben, in dem das Vokabular dieses neuen Forschungsfeldes umrissen und geklärt wird – ausdrücklich gegen jede „neoliberale Klimapolitik“.
Das ist es: Eine Zusammenstellung von Elfen, Kobolden und allerlei anderen Wesen.
A–Z: Akephalos bis Zwerg.
Gelernt: Der Blutschink ist ein dämonischer Wassergeist aus Tirol. Er hat die blutige Gestalt eines kohlenschwarzen Zottelbärs mit knochigen, nackten Menschenfüßen. Mit Vorliebe saugt er Kindern das Blut aus und verzehrt sie danach.
Für alle, die: ganz genau wissen wollen, was sich da unter dem Bett versteckt.
Bibliografie: Leander Petzoldt: „Kleines Lexikon der Dämonen und Elementargeister“. 5. Auflage, Verlag C. H. Beck 2015, 16,95 Euro.
Abschließend sei noch das „Handbuch des kleinen Zoosystemikers“ von Louis Bec erwähnt. Der provencalische Autor erklärt darin die Begriffe und Aufgaben des Zoosystemikers, der „geheime zoologische Systeme zu entdecken und erforschen hat.“ Sein Lexikon ist ein Manual: Dabei „muß unbedingt alles unternommen werden,“ heißt es darin unter Punkt 1.10, „um in den Augen der Mitmenschen das Erscheinungsbild eines durchschnittlichen und vernunftbegabten Menschen aufrechtzuerhalten.“
Dessen ungeachtet muss es der angehende Zoosystemiker, wie es unter Punkt 4.2 heißt, „stillschweigend und gelassen hinnehmen, von den Wächtern über die ‚Eigenarten‘, den großen Vertretern des Wissens, den bedingungslosen Anhängern des Mythos vom Kunstschaffenden mit dem abgeschnittenen Ohr, von den sehr ehrenwerten Kunstkritikern und sogar von den Medizinstudenten im zweiten Studienjahr ausgebuht zu werden.“ Daneben sollte er (Punkt 5.6) „mit der Fähigkeit begabt sein, Expeditionen in die vagen und konturlosen Zwischenreiche einer atopischen Zoogeographie vorzubereiten.“ Dieses südfranzösische Handbuch ist ein Künstlerprojekt, und eher eine sortierte Aphorismensammlung als ein Lexikon.
Bewertung
Generell würde ich zu den Lexika-Projekten, die mehr durch ihre Ordnung als ihre Originalität bestechen, sagen: Dieses Genre taugt nichts. Wir brauchen stattdessen mehr Unordnung, Abschweifungen und kühne Gedanken, steile Thesen.
Das ist es: Es stellt die Bandbreite vergessener Traditionen dar.
Gelernt: Das Gänsemagenorakel sagte die Fruchtbarkeit des kommenden Jahres voraus.
A–Z: Abblümeln bis zwölf Zwiebelschalen.
Für alle, die: Ostern und Weihnachten zu langweilig finden.
Bibliografie: Manfred Becker-Huberti: „Lexikon der Bräuche und Feste“. Herder Verlag 2007, 48 Euro.
Dennoch liegen diese Lexika im Trend. In ihnen zeigt sich der schon zu Beginn kritisierte Projekt-Gedanke: Sie sind auf den Verkauf ausgerichtet.
Der Siegener Germanist Georg Stanitzek hat bereits 1987 die Karriereplanung des postmodernen Projektemachers in den Blick genommen: „Wer sich dem Projektemachen widmet, fährt nicht in den sicheren Hafen eines ‚Charakters‘, sondern zieht es vor, immer von neuem, von Projekt zu Projekt, die unsichere Zukunft herauszufordern.“ Seine Karriere besteht laut Stanitzek „aus Ereignissen der erfolgreichen – oder misslungenen – Verknüpfung von Selbstselektion und Fremdselektion. Der Projektemacher ist darauf aus, die Unwahrscheinlichkeit des Zueinanderfindens von Selbst- und Fremdselektion methodisch zu reduzieren, indem er mit seinem Projekt die Selektionen prospektiv engführt, d.h. in Form des Projekts gleichsam ein Exposé zu ihrer Verknüpfung vorlegt. Wenn die Selbstselektion sich in Projektform annonciert, so ist sie von vornherein präzise auf eine Fremdselektion hin [durch die Buchverleger z.B.] adressiert, steuert sich nah an sie heran, macht sich beobachtbar und beurteilbar“.
Fazit
Das ist es: die meistgebrauchten Begriffe aus dem Polizeialltag.
Gelernt: In der Spurendokumentationsdatei findet man alles.
A–Z: Abbiegen bis Zylinder.
Für alle, die: den Kriminalisten in sich tragen.
Bibliografie: Reinhard Rupprecht: „Polizei-Lexikon“. Kriminalistik Verlag. 1995. 24,50 Euro.Recherche: Katja Blazheichuk und Philipp Saul
Dieses Suchen der Nähe tatsächlicher Anschlussmöglichkeiten lässt sich mit Stanitzeks Worten „durchaus Opportunismus nennen“.
Und noch etwas: Man kann Lexika nicht einfach lesen. Die alten wie die neuen sind eben bloße Nachschlagewerke. Ich befürchte, wir werden in Zukunft aus Opportunismus und Phantasielosigkeit noch mehr davon geliefert bekommen.
Dessen ungeachtet kaufe ich sie mir alle, denn nur „was du Schwarz auf Weiß besitzt, kannst du getrost nach Hause tragen“. Oder, mit den Worten eines kanadischen Indianers gegenüber einem Ethnologen: „Unsere Vorfahren haben die Tiere geheiratet, sie haben ihre Lebensweise kennengelernt, und sie haben diese Kenntnisse von Generation zu Generation weitergegeben. Die Weißen schreiben alles bloß in ein Lexikon, um es nicht zu vergessen.“
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