: „Es gibt eine Konzentration der Macht“
DIE LINKE Ausbeutung beruht darauf, sich selbst zum Subjekt der Ausbeutung zu machen, sagt Antonio Negri. Ihr Ziel ist das von allen produzierte Gemeinsame, um das in den Metropolen, nicht in der Fabrik gekämpft wird
■ Geboren wurde Antonio Negri am 1. August 1933 in Padua. Der Politikwissenschaftler ist der führende Theoretiker der neomarxistischen italienischen Bewegung des Operaismus. Im September kam in den USA „Commonwealth“, Negris drittes gemeinsam mit dem US-amerikanischen Literaturtheoretiker Michael Hardt geschriebenes Buch heraus.
INTERVIEW TANIA MARTINI
taz: Herr Negri, in Deutschland haben die Wähler für eine konservativ-liberale Koalition gestimmt, die Sozialdemokratie hat, nachdem sie lange mit der Mittelschicht geflirtet hat, ihr vorläufiges Ende akzeptiert. Die Linke ist einem veralteten Korporatismus zugeneigt. Steckt die parlamentarische Linke in einer Repräsentationskrise?
Antonio Negri: Die Parteien der Linken sind seit 1968 in eine sehr tiefe, irreversible Krise der Repräsentation geraten. Die parlamentarische Linke hat seither ihre Verbindung zu den Arbeiter- und zu den sozialen Bewegungen verloren.
Warum soll diese Krise irreversibel sein?
Weil diese Parteien die Veränderungen der Arbeit und die neuen Regime der Kommunikation nicht verstanden haben. Reichtum wird längst nicht mehr allein in der Fabrik produziert, sondern in den Universitäten, im Alltag, im Zusammenleben etc. Es ist nicht mehr nur die Arbeitskraft, die ausgebeutet wird, sondern die Kommunikation, die Kooperationen und die Subjektivitäten selbst werden subsumiert und ausgebeutet. Ausbeutung heute beruht darauf, sich selbst zum Subjekt der Ausbeutung zu machen.
Nehmen wir das italienische Beispiel. Sie sagen, Berlusconi sei eine Karikatur des italienischen Ungleichgewichts. Hat sein rechter Populismus von den Deregulierungen der neuen Arbeitsgesellschaft profitiert?
Berlusconi ist aus allen möglichen Perspektiven eine Karikatur. Aber man darf nicht die Karikatur mit dem verwechseln, was dahinter steht. Ihm ist es vor allem gelungen, eine starke Repräsentation der italienischen Rechten zusammenzuzimmern.
Warum kann die italienische Linke einer Karikatur nichts entgegensetzen?
Berlusconi ist eine sehr moderne Figur, er hat die Krise der Repräsentation verstanden und sie interpretiert. Er hat sich selbst als charismatische Person gesetzt. Auch wenn es ein mediokres Charisma ist, aber es spricht mit der Potenz der Affekte, die er mobilisiert, während die Linke in einer Widerstandshaltung gefangen bleibt und gleichzeitig versucht, sich in die Mitte zu bewegen. Die Linke lebt in der Illusion, in einem bipolaren System den demokratischen Pol repräsentieren zu können und verfällt in einen Extremismus der Mitte.
Die radikale Linke hängt derzeit eher dem Katastrophismus an.
Ich sehe die Schwierigkeiten der Linken nicht so sehr in der Art der Politik, sondern im Prozess der Neugründung. Ein solcher Prozess muss sich nun in einer Phase der radikalen, epochalen Transformation des Kapitalismus vollziehen. Es muss zunächst darum gehen, zu begreifen, dass das Ziel der Ausbeutung das Gemeinsame ist.
In Ihrem neuen, gemeinsam mit Michael Hardt verfassten Buch steht der titelgebende Begriff „Commonwealth“ für jenes Gemeinsame. Was ist das Gemeinsame?
Es ist schwierig, das Gemeinsame überhaupt zu definieren. Immaterielle Güter, Wasser, Luft, sprachliche Formen, Formen der Kommunikation, die ständig neu erfunden werden – all das definiert das Gemeinsame. Das Gemeinsame ist das, was wir alle gemeinsam produziert haben.
Aber klingt im Begriff „Commonwealth“ nicht die ganze bürgerliche Vertragstheorie an, also das, was dem Marxismus auch immer begriffliches Mittel zur Verschleierung war?
Commonwealth steht für den Versuch, ein Gemeinsames jenseits von privater und öffentlicher Aneignung zu formulieren, – anders als bei den Vertragstheoretikern Hobbes oder Locke. Mit dem Begriff geht es uns auch darum, einfach ein Gefühl für das Gemeinsame zu bekommen. Spinoza hat das Gemeinsame definiert als die Verweigerung der Einsamkeit, darauf beziehen wir uns.
In „Commonwealth“ nimmt die Metropole den Platz ein, den früher die Fabrik innehatte, sie ist die Bühne für neue Revolten. Warum?
Die Metropole ist zum einem der Ort der Ausbeutung, zum anderen der Ort der Auseinandersetzung und der Begegnung – genauso wie es die Fabrik zu ihrer Zeit war.
Was sollen die Konfliktlinien sein, entlang derer sich die Auseinandersetzungen in der Metropole entzünden?
Die großen Konfliktlinien unserer Zeit sind natürlich weiterhin ganz wesentlich jene, welche die Reproduktion des Lebens angehen. Die Bedingungen, unter denen die Arbeit in der Metropole verausgabt wird, alle Dimensionen des „welfare“, der Sorge um sich und andere. Die zukünftigen Konflikte betreffen vor allem die Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse – die Mobilität und die Flexibilisierung der Zeiten und Räume, in denen Arbeit stattfindet. Dann ist es offensichtlich, dass dazu die Konflikte kommen, die in Verbindung stehen mit der Restrukturierung oder besser: mit der Destruktion und Neukonstruktion des Kontinuums von Schule und Produktion. Zum anderen werden die Konflikte die Migration betreffen – die Ausbeutung der migrantischen Arbeit und die Grenzen und Einschränkungen, denen die Migration unterworfen werden soll.
In Deutschland erleben wir zur Zeit am Beispiel neuer gigantomanischer Bauprojekte einerseits und einer Serie brennender Autos in den großstädtischen Innenstädten andererseits eine Neuauflage der Gentrifizierungsdebatte. Geht es Ihnen mit Ihrem Buch auch um die Wiederaneignung der Metropole selbst?
Sicher, ganz grundlegend! Das hängt im Kern mit der Struktur des heutigen Kapitalismus zusammen, der kein Kapitalismus der industriellen Produktion mehr ist, sondern einer des Finanzkapitals. Und deshalb ist die Frage der Rente, das heißt der Grundrente, des Profits, der aus Grundeigentum und Immobilien kommt, absolut zentral. Es ist ein „Rentenkapitalismus“. Das ist übrigens das Gegenteil von dem, worauf Keynes hinauswollte. Was er wollte, nannte er „Euthanasie des Rentiers“, er hat gar den Rentenkapitalisten aufgefordert, Selbstmord zu begehen. Heute gibt es einen großen Block aus diesen Rentiers. Das ist auch die Bedeutung von Berlusconi. Er ist ein klassischer Repräsentant des Grundbesitzers.
Die 1930er-Jahre haben den Massenarbeiter hervorgebracht, auf die Krise Mitte der 1970er-Jahre folgte die Etablierung des neoliberalen Finanzkapitalismus. Wie wird sich der Kapitalismus diesmal restrukturieren?
Die autoritären Formen werden stärker werden. Wir sind an einem Punkt, an dem nicht nur Berlusconi oder, wichtiger noch, Sarkozy und andere den Versuch unternehmen, Machtzentren zu schaffen – eine monarchische Macht gegen die demokratische Macht zu etablieren. Das Problem besteht nicht bloß in der Macht der Finanzzentren. Es gibt eine Konzentration der Macht, die sich aus allen möglichen Quellen speist. Das bisherige, überkommene juridische System ist darauf noch nicht vorbereitet. Es entsteht eine Governance, die versucht, die Zwischenräume zu überbrücken, die sich zwischen Herrschaft und Widersetzlichkeit auftun. Im Grunde zeigen sich zwei Phänomene: Auf der einen Seite eine Art Akkumulation der Macht, die sich vor allem an der ökonomischen Macht ablesen lässt. Auf der anderen Seite die Unfähigkeit, Macht auszuüben, sie tatsächlich einzusetzen und zu führen. Die aktuelle kapitalistische Krise ist paradigmatisch – sie stellt eine Gefahr dar und sie steht für die große und anhaltende Schwierigkeit, die gegenwärtigen Probleme zu lösen. Und deshalb müssen wir davon ausgehen, dass auch der Widerstand sich nicht darauf konzentrieren darf, die Probleme lösen zu wollen, sondern sich auf eine mikropolitische Ebene verschiebt.
Dann finden die zukünftigen Kämpfe zuallererst auf der Alltagsebene statt?
Wahrscheinlich. Aber das ist keine Gewissheit.
Aus dem Italienischen von Stefania Maffeis und Thomas Atzert
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