ZAHNSCHMERZEN : 1929 wird’s kälter
Grauer Himmel, Nieselregen, kalter Ostwind und auch noch höllische Zahnschmerzen. Seit einer Woche quälen mich Zahnschmerzen. Es hilft nichts, ich muss zum Zahnarzt.
Zwei Stunden Wartezimmer, dann meine Zahnärztin. Sie sagt, dass mein Weisheitszahn rechts unten schief hervorgewachsen ist und jetzt gegen einen Nerv drückt. Der Weisheitszahn muss raus, sagt sie, aber leider kann sie das heute nicht machen, da sie gerade auf digitale Röntgenbilder umstellen. Die Zahnarzthelferin telefoniert: Ich bekomme einen Termin um 14 Uhr in einer anderen Zahnarztpraxis am Alexanderplatz.
Ich fahre mit dem Fahrrad zum Alex. Es nieselt immer noch, der Verkehr ist laut und stressig und ich denke: Scheiß Wetter, scheiß Stadt, scheiß Leben und scheiß Weisheitszahn. Die Praxis für Implantologie und Oralchirurgie befindet sich im 5. Stock eines Hochhauses. Etliche Leute in Weiß schwirren durch die Räume. Fünf Minuten später schon die Röntgenaufnahme, kurze Zeit später kommt die Ärztin: „Gehen Sie in das Zimmer, setzen Sie sich auf diesen Stuhl, Mund auf, Spritze rein, jetzt tickelt es, ja, ja, das tut weh, Mund weiter auf, zack, draußen ist der Zahn. Drei Tage keinen Kaffee, keine warmen Speisen, kein Alkohol, keine Zigaretten. Sie können jetzt gehen.“
Mir ist schwindlig, ich blute im Mund, ich habe Schmerzen. Eine Schwester sagt: Keine Sorge, dass wird schon wieder. Ich fahre mit dem Aufzug nach unten. Draußen Nieselregen, die Weltzeituhr und dieser Spruch von Döblin an einer Hochhausfassade: „Wiedersehen auf dem Alex, Hundekälte. Nächstes Jahr, 1929, wird’s noch kälter.“ Ein Punk kommt auf mich zu und fragt nach einer Zigarette. Ich sage unter Schmerzen, dass ich keine habe, woraufhin er mich als Arschloch bezeichnet. Ich gehe zu meinem Fahrrad und denke: Scheiß Wetter, scheiß Stadt, scheiß Leben. ALEM GRABOVAC