: Die Luftnummer
Eine unschöne Weihnachtsgeschichte von Arzt und Patient
VON GABRIELE GOETTLE
Vielleicht ist der Fall eher einmalig, vielleicht aber kommen solche Ungeheuerlichkeiten allerorten irgendwo in diesem Land vor. Ich jedenfalls erfuhr diese Geschichte nur zufällig. Als ich vor einiger Zeit morgens ein Geschäft betrat und sah, dass die ansonsten eher gefasst und streng wirkende Verkäuferin, sich abwandte und weinte, fragte ich sie vorsichtig nach dem Grund. Sie erzählte mit gesenkter Stimme, dass ihr schwer kranker Vater von seinem langjährigen Hausarzt einfach so vor die Tür gesetzt wurde mit der Begründung, er sei eine Luftnummer.
Stent im Herzen
Dieser Geschichte ging mir nicht aus dem Kopf. Nach einiger Zeit sprach ich sie noch mal darauf an, und sie gab mir die Telefonnummer ihrer Mutter, mit der ich mich in Verbindung setzte. Frau A. erklärte sich nach einigen Gesprächen bereit, mir unter Wahrung der Anonymität, ihre Geschichte beziehungsweise die Geschichte ihres Mannes zu erzählen.
„Es war so … ich kann das kaum erzählen, sofort werde ich wütend, obwohl es jetzt schon einige Zeit her ist! Also am 7. August, das war ein Dienstag, da ist mein Mann aus dem Behring-Krankenhaus – es heißt ja jetzt Helios Klinikum Emil von Behring – nach Hause entlassen worden. Er ist inzwischen 77 Jahre alt und ein schwer kranker Mann. Seit April 2012 war er durchgehend in verschiedenen Krankenhäusern mit einer Reihe von Krankheiten. Er hat einen Stent im Herzen, er hat eine ganz schwere chronische Lungenerkrankung, COPD, hat immer wieder Infekte, Lungenentzündungen, braucht rund um die Uhr Sauerstoff. Dann hatte er einen Hirninfarkt und eine total verstopfte hirnversorgende Arterie, Carotisstenose, die musste sofort operiert werden. Es gab Komplikationen, der Zungennerv wurde verletzt, dann machte er eine Reha zur Behandlung der Ausfälle, Logopädin, Atemtherapie. Für kurze Zeit kam er in eine Tagesklinik und wurde nachmittags nach Hause gebracht mit einem Krankentransport. Aber bereits nach zwei Tagen musste er wieder wegen akuter Atemnot mit dem Notarzt ins Krankenhaus gebracht werden, diesmal ins Jüdische Krankenhaus, wo man ihn vier Wochen vergeblich gegen die Infekte behandelt hat. Die haben das nicht in den Griff gekriegt. Dann endlich die Verlegung in die Lungenklinik, ehemals war sie in Heckeshorn, jetzt ist sie im Helios Klinikum Emil von Behring. Dort kam er sofort auf die Intensivstation, wieder vier Wochen Aufenthalt mit Sauerstoff, Keimnachweis und endlich den richtigen Antibiotika.
Dann kam also wie gesagt am 7. 8. der Tag der Entlassung, und mein Mann hatte freundlicherweise noch Medikamente mitbekommen für drei Tage, mehr geht heute nicht. Der vorläufige Entlassungsarztbericht war sofort von der Klinik an Dr. M. gefaxt worden – das war der Arzt meines Mannes –, damit die Rezepte für die notwendigen Anschlussmedikamente verschrieben werden können. Das war ganz wichtig, denn es lag ja ein Wochenende vor uns. Weil am nächsten Tag, also mittwochs, die Praxis nur bis 12 Uhr offen ist, habe ich auch gleich dort angerufen, um zu sagen, dass mein Mann die Medikamente dringend braucht und ich am nächsten Tag komme, um die Rezepte zu holen, weil er ja selbst gar nicht gehen kann und nichts. Aber so weit bin ich gar nicht richtig gekommen, die Sprechstundenhilfe hat nur zu mir gesagt: Nee, Frau A., Ihr Mann wird vom Herrn Doktor nicht mehr behandelt, Sie können morgen herkommen und sich die Unterlagen abholen! Ich war wie vor den Kopf geschlagen. Hatte keine Ahnung, was das bedeuten soll. Meinem Mann habe ich erst mal nichts von dem Telefongespräch gesagt, ich wollte ihn ja nicht aufregen. Aber ich habe kein Auge zugemacht in der Nacht!
Am nächsten Tag bin ich nach Steglitz gefahren, bin rein in die Praxis und habe die Sprechstundenhilfe gefragt: ‚Ja was ist denn los, habe ich das richtig verstanden gestern, dass Dr. M. meinen Mann nicht weiter behandelt? Was soll ich denn dann machen? Ich brauche doch die Rezepte‘. Tut mir leid, sagt sie ganz kalt, der Doktor behandelt Ihren Mann nicht mehr. Hier sind die Unterlagen. Ich stand da und wusste im Moment gar nicht, was ich darauf sagen sollte. Sie müssen sich den Raum so vorstellen: Man kommt da in der Mitte rein, da ist gleich der Tresen, dann gibt’s zwei so ’ne Vorhänge, wo er mal spritzt, rechts ist die Tür zu seinem Behandlungszimmer, und die Patienten sitzen im offenen Gang, keine zwei Meter vom Tresen entfernt, sodass sie alles mithören können.
Plötzlich ging seine Tür auf, und er kam raus, hatte mich wohl gehört. Kein Händedruck und nichts. Ich frage ihn: ‚Sagen Sie, Herr M., warum behandeln Sie meinen Mann nicht mehr?!‘ Und er sagt ganz unfreundlich und ärgerlich: ‚Ja, haben Sie mal geguckt, was der alles an Medikamenten kriegt? Das ist eine Luftnummer! Kommt gar nicht infrage, das mache ich nicht mehr!‘ Dicht hinter ihm saß ein altes Ehepaar, seine Patienten, aber das war ihm ganz egal. Ich bin ziemlich ruhig geblieben, zu meiner eigenen Überraschung, und habe gesagt: ‚Das kann doch wohl alles nicht wahr sein, Herr M., ich kann das nicht verstehen, dass Sie die Behandlung meines Mannes einfach ablehnen. Mein Mann ist seit fast 30 Jahren bei Ihnen Patient, er ist zu Ihnen gekommen, als Sie noch Anfänger waren in Ihrer Praxis, er hat Ihnen über all die Jahre die Treue gehalten, und jetzt, wo er ein schwer kranker Mensch ist, da wird er von Ihnen einfach so auf die Straße geschmissen?‘ Er sagte nur: ‚Ihr Mann war ja lange Zeit gar nicht mehr hier.‘ Und ich darauf: ‚Wie denn auch?! Wenn Sie die Arztberichte gelesen hätten, die Sie regelmäßig bekommen haben, dann wüssten Sie, dass mein Mann praktisch fast von Februar an ständig in der Klinik war, insofern also konnte er gar nicht kommen!‘ Er hat nur noch mal gesagt: ‚Das geht so nicht, das mache ich nicht!‘ Dann ist er grußlos in sein Behandlungszimmer verschwunden. Ich war einerseits wie vom Blitz getroffen, andererseits war ich wahnsinnig wütend und musste mich zusammenreißen. Hab dann nur zu der Frau am Tresen gesagt: Gut, geben Sie mir die Unterlagen. Ach ja, das hätte ich fast vergessen, bevor mir die Frau am Tresen das dicke Kuvert mit den Unterlagen reichte, hat sie noch gesagt: ‚Kann ich bitte die Karte haben!‘ Frage ich: ‚Was wollen Sie? Die Krankenkarte? Sie wollen das auch noch abrechnen? Ja was wollen Sie denn da angeben? Eine Beratung? Sie bekommen von mir gar nichts mehr! Aber eins kann ich Ihnen jetzt schon sagen, das hier wird Konsequenzen haben!‘
Ich bin dann ein letztes Mal aus dieser Tür und aus diesem Haus gegangen. Habe gar nichts verstanden, mir kamen die Tränen, aber vor Wut. Und man fühlt sich ja total beschämt, behandelt wie Dreck! Warum hat er das so gemacht? Der Arzt war immer nett und freundlich. Er hätte doch zum Beispiel einfach sagen können: Frau A., ich verschreibe Ihnen jetzt zwar die Medikamente, damit Ihr Mann übers Wochenende versorgt ist, aber dann würde ich Ihnen doch gern vorschlagen, dass Sie den Arzt wechseln, denn sehn Sie, der Herr A. wohnt so weit weg, und nun braucht er vernünftige Hilfe und Kontrolle. Und ich kann ja nicht auf Hausbesuch fahren von Steglitz in den Wedding. Er soll sich einen Arzt in seiner Nähe suchen. Das hätten mein Mann und ich sofort verstanden.
Der erste Besuch bei Dr. M., das weiß ich noch genau, war 1984, da war der Herzinfarkt meines Mannes. Seitdem ist er Patient dieses Arztes, durchgehend. Wir wohnten damals in Friedenau, und mein Mann hatte sein Geschäft in Lankwitz, es war beides mit dem Auto nur ein Katzensprung bis zur Arztpraxis in Steglitz. Das hat uns immer sehr beruhigt. Auch als wir nach Tiergarten umgezogen sind, wollte er bleiben, weil er sagte, das ist mein Arzt, ich will zu keinem anderen. Es hat sich ja im Laufe der Zeit eine gute Arzt-Patienten-Beziehung entwickelt, das Verhältnis war praktisch schon freundschaftlich, sag ich mal so. Ich kannte ihn selbst noch aus dem Klinikum Steglitz, wo er in der ärztlichen Ausbildung war. Und ich habe damals, glaube ich, als mein Mann dringend einen Arzt brauchte, zu ihm gesagt, da ist einer aus dem Klinikum, der ist in Steglitz, den kannst du als deinen Arzt nehmen. Er ist Internist. Gut, er hat keinen Hausarztvertrag, aber er war für meinen Mann immer so wie ein Hausarzt, einfach aufgrund dieses langen Vertrauensverhältnisses und der jahrelangen Besuche. Mein Mann hatte dort seine Lungenentzündungen, eine nach der anderen. Er war ja ein sehr starker Raucher früher, Dr. M. hatte ihm das Rauchen verboten, aber ohne Erfolg. Inzwischen hat er das Rauchen aufgegeben. Jedenfalls, es wurde langsam immer schlimmer mit der Zeit, er musste zwischendurch immer wieder ins Krankenhaus, in die Lungenklinik Heckeshorn. Er wurde über die Jahre einfach immer kränker insgesamt. Und er hat mit der Zeit auch immer mehr Medikamente nehmen müssen. Damals schon fing das an. Einmal im Quartal musste er hin. Aber bis zum letzten Besuch war eigentlich alles gut.
Und im Februar ist er ja dann so krank geworden. Zu Weihnachten waren wir noch in der Praxis bei Dr. M. und haben unsere Geschenke abgegeben. Jedes Weihnachten sind wir hingegangen. Jedes Weihnachten, all die Jahre, meine Tochter und ich, und haben uns bedankt mit unseren Geschenken. Bedankt dafür, dass er ein guter Arzt war.“
Sie lacht bitter, verschluckt sich und hustet qualvoll eine Weile. „Sie müssen entschuldigen, klingt ja, als hätte ich es auf der Lunge … Ja, wir wollten uns eben einfach bedanken für die Fürsorge – jetzt nicht lachen! Das war ja tatsächlich so. Wir hatten immer eine riesige Tüte mit Süßigkeiten für die Mädchen. Na ja, Mädchen sind sie inzwischen auch nicht mehr, also für die Arzthelferinnen. Und für ihn gab’s immer eine Flasche Rotwein. Aber einen richtigen! Oft hat mein Mann auch noch ein Kärtlein geschrieben, das hing dann dran. Das haben wir also fast 30 Jahre lang gemacht, und wir haben das ernst gemeint, waren froh über diesen Arzt, den ja auch ich gut kannte.
Ach ja, was ich vergessen hatte zu erzählen, die Arzthelferin wollte bei unserem Telefonat anfangs auch noch, dass mein Mann selbst in die Praxis kommt zu Dr. M. Ich habe gesagt, dass er nicht kann, und sie meinte, dann nehmen Sie doch einfach einen Krankentransport. Also es ging wohl um den ‚persönlichen Arzt-Patienten-Kontakt‘, der ja nötig ist zum Abrechnen. Dafür ist immer Zeit! Mein Mann kann gar nicht, ist kaum mobilisiert. Meine Tochter und ich haben ihn schon mal im Rollstuhl rausgefahren, damit er etwas an die Luft kommt. Er kann nicht laufen. Wir sind zum Friseur gefahren, Haare schneiden, die hingen schon bis sonst wohin, alles, damit er sich wohlfühlt. Er hat sein Sauerstoffgerät, wir haben einen Badewannenlifter beschafft, solche Sachen eben. Wir haben dafür gesorgt, dass alle Hilfsmittel da sind, wenn er rauskommt aus dem Krankenhaus, um ihm das Leben zu erleichtern.
Wie einen räudigen Hund
Und es war anfangs auch so ganz gut. Vor allem auch seine Stimmung. Er ist dann aber vollkommen zusammengebrochen, als er erfahren hat, dass sein Arzt ihn wie einen räudigen Hund davongejagt hat. Er wollte wissen, warum, und ich hab ihm gesagt, na ja, du kostest wohl zu viel. Ja, ja, hat er ganz traurig gesagt, ich koste zu viel. Es kamen ihm die Tränen, die ihm sonst nie kamen. Er war vollkommen am Boden zerstört und wurde sehr verschlossen und depressiv danach. Er fühlt sich wirklich als kranker Mensch von seinem vertrauten Arzt verlassen und aufgegeben. Das mit der Luftnummer haben meine Tochter und ich ihm natürlich gar nicht gesagt. Extra nicht, sonst hätte er vielleicht noch mal einen Herzinfarkt gekriegt. Also das weiß er gar nicht. Es war ja auch so schon genug, an Kränkungen und Gemeinheit. Mein Mann hat gesagt, dass er es einfach nicht versteht, auch weil der Doktor ihn bei seinem letzten Besuch noch in den Arm genommen und gesagt hatte: ‚Ach Herr A., wie geht’s denn?‘ Und dann das!
Na ja, das war nun die Situation. Was mache ich jetzt? Ich kenne doch keinen Arzt im Wedding, und wir brauchen die Rezepte. Zum Glück kam dann die Schwester von der Pflegestation Insulaner zum Insulinspritzen – er ist schwerer Diabetiker und kriegt dreimal täglich Insulin gespritzt. Die Schwester, die ist eine ganz nette. Ich habe ihr unser Problem geschildert, sie konnte das kaum glauben. Sie darf ja keinen Arzt empfehlen, hat mir aber mehrere genannt, die auch Hausbesuche machen. Ich hab mir einen ausgesucht, der war der richtige! Dr. Schulze, gleich um die Ecke bei meinem Mann. Er hat eine Hausarztzulassung und ist ein erfahrener Arzt, glaube ich, ein handfester älterer Mann. Er sagt aber auch, wenn ihm was nicht passt. Die Schwester hat für mich dort angerufen und gesagt, ich kann kommen. Bin gleich in die Praxis gefahren mit meiner Liste und dem Arztbrief. Da war an dem Tag eine Ärztin zur Vertretung, weil er Hausbesuche machte, und der habe ich alles erzählt. Sie war total empört und hat mir geraten, Ärztekammer und Krankenkasse darüber zu informieren. Sie hat mir alle Rezepte sofort geschrieben. Und dann kam Dr. Schulze einige Tage später zum Hausbesuch, obwohl er meinen Mann ja gar nicht kannte. Er sagte einfach: ‚Tach, mein Name ist Schulze, wie geht’s Ihnen, Herr A? Warum liegen Sie mit Ihrem Sauerstoffgerät im Bett herum? Stehn Sie mal ein bisschen auf, setzen Sie sich auf die Couch, gucken Sie Sport, machen sie was!‘ Aber in nettem Tonfall. Nee, der ist ganz anders gestrickt. So viel bringt ihm ja der Hausbesuch auch nicht. Darum machen ja viele gar keinen. Wir haben Glück gehabt. Wir kriegen alle Rezepte. Und Dr. Schulz ist ein ‚Zugewandter‘, hört zu, ganz freundlich, ganz menschlich, das hat richtig gutgetan. Seitdem geht es meinem Mann auch besser. Er guckt wieder ein bisschen Fernsehen, liest seine Zeitung. Vielleicht wird er ja allmählich wieder selbstständiger, dann kann ich mich mehr um meine eigenen Sachen kümmern.
Mein Mann und ich, wir leben ja schon lange getrennt, seit 14 Jahren, sind aber noch verheiratet. Es gibt eben immer Differenzen im Leben, auch zwischen Eheleuten. Aber wir sind im Guten auseinandergegangen, und er wohnt jetzt im Wedding und ich hier draußen in Wannsee. Ich habe mich aber immer gekümmert um ihn, kümmere mich auch jetzt. Fahre jeden Tag hin und helfe ihm. Ich sage mir, es gab ja nicht nur schlechte Zeiten, es gab viele gemeinsame Jahre, die schöne Jahre waren. Von daher will ich ihn auch nicht im Regen stehen lassen.
Mein Mann ist ja Türke, er ist 1935 in Ankara geboren. Ist dort aufgewachsen, zusammen mit vier Brüdern, die Eltern sind, so ähnlich wie bei mir, auch schon ziemlich früh gestorben. Da war er neun Jahre alt, und man hat ihn bald in eine Schneiderei gesteckt. Es war sein Glück, denn er hat da gelernt. Später hat er seine Soldatenzeit gemacht, und 1961 kam er als ‚Gastarbeiter‘ nach Deutschland, direkt aus der türkischen Hauptstadt, und hat dann hier in Berlin als Bügler gearbeitet. Er hatte ja seinen Beruf erlernt, war Maßschneider und hat anfangs immer noch gehofft, irgendwo eine gute Anstellung zu finden. Da kam aber nichts.
In Steglitz hat er sich dann selbstständig als Schneider gemacht mit einem kleinen Geschäft, einer Änderungsschneiderei. Von Maßanzügen hätte er nicht leben können, die lassen sich ja in Deutschland nur die Reichen machen, und die haben ihren Schneider. In der Türkei war das anders damals oder vielleicht heute auch noch, da lässt sich auch der Normalbürger seinen guten Anzug bei einem Schneider anfertigen. Später hatte er sein Geschäft dann in Lankwitz, und von dort ist er umgesiedelt nach Lichterfelde West, da war er 14 Jahre lang, in der Drakestraße. Die kennen Sie? Ja, dort bei der Aral-Tankstelle, gleich neben dem Zoogeschäft, war seine Schneiderei. Gewohnt haben wir lange Zeit in Friedenau. Und 1984 hat er dann den Herzinfarkt gehabt, das war aber kein Grund zum Aufgeben des Geschäfts, aber dann gab es ein Mietproblem. Der Vertrag war abgelaufen, und bei Verlängerung wollte der Hausbesitzer 50 Prozent mehr Miete. Das konnte er ja gar nicht erwirtschaften, und dazu waren die hinteren Räume auch noch nass, also haben wir gesagt, es ist besser, das Geschäft aufzugeben. Wegen des Herzinfarkts und seiner Luftnot hat er dann einen Rentenantrag gestellt, wurde untersucht und gleich als erwerbsunfähig befunden. Daraufhin hat er die Rente bekommen.
Aber leider, er kriegt ganz wenig Rente, weil er ja selbstständig war. Das war auch so ein Streitpunkt zwischen uns, Gott sei Dank konnte ich mich da mal durchsetzen mit der Kranken- und Rentenversicherung. Er hat ja keine so großen Umsätze gemacht, hat nur den Mindestbeitrag eingezahlt. Deshalb bekommt er auch nur 400 Euro. Ich habe ihm dann gesagt, gut, Miete übernehme ich, Strom übernehme ich, und sonnabends, wenn meine Tochter und ich zusammen bei ihm sind, dann kaufen wir auch ein. Er ist ja kein Bösling. Früher allerdings war er ein Bösling, teilweise. Heute ist er völlig pflegeleicht geworden, bedankt sich für alles, also von daher … Aber wir haben uns natürlich das Alter auch anders vorgestellt, jetzt geht es ja nur noch darum, dass es ihm so weit besser geht, damit ich nicht jeden Tag angedackelt kommen muss.
Ich bin oft ganz schön fertig am Abend, muss nebenher auch noch meine eigenen Sachen erledigen. Früher haben wir ja sogar darüber nachgedacht, eines Tages nach der Rente in die Türkei zu gehen. Für immer. Dann wären wir in Ankara gewesen, in unserem Haus. Das haben wir nicht mehr, das ist längst verkauft. Wir hatten es uns damals bauen lassen nach europäischem Maßstab, war alles schön drinnen, Zentralheizung, alles. Wir sind jedes Jahr hingefahren. Wir haben es aber nicht länger als eine Woche im Haus ausgehalten und sind gleich ans Meer gefahren, irgendwohin, wo es schön ist, und haben die meiste Zeit im Hotel gewohnt. Ich glaube, das wäre nie was geworden. Meinem Mann geht es wie vielen Türken, die hier leben, sie sind zu deutsch, sie können nicht mehr in der Türkei leben, kriegen Probleme, weil sie so anders sind.
Dieser Mann hat überhaupt nichts Türkisches an sich. Der wurde in seinem eigenen Land von den Teppichhändlern auf dem Basar unentwegt mit Angeboten belästigt, weil sie ihn für einen Touristen gehalten haben. Dieser Mann hatte strahlend blaue Augen und schwarze Haare. Er hat die Augen meiner Tochter. Ich hatte ihn schon sehr gern, er war richtig attraktiv, muss ich sagen. Er war immer sehr gut angezogen, immer Hose, Hemd, Sakko, immer gute Lederschuhe, sein ganzes Leben lang praktisch. Er wäre nie rausgegangen, wenn irgend etwas nicht zusammengepasst hätte. Er hatte Stil! Und er war sauber, ordentlich, ganz pingelig. Jeans oder solche Sportklamotten, das hat er nie getragen! Und sehr schön war er auch, er hatte Charme, er war sogar witzig, eigentlich.“
Sie seufzt tief. „Und er konnte tanzen, Foxtrott, Rock ’n’ Roll, klar! So haben wir uns ja auch kennengelernt. Mein Mann hat gut Deutsch gesprochen. Ich konnte kein Wort Türkisch, als ich ihn kennenlernte, und habe es dann in der Abendschule gelernt, hab mir meine eigenen Bücher gekauft, da war das Kind noch nicht da. Später habe ich mit meiner Tochter Deutsch gesprochen und Türkisch. Sie hatte auch immer türkische Freundinnen und dann ihren türkischen Freund später. Sie spricht heute perfekt Türkisch und perfekt Deutsch. Das ist schön. Ich habe inzwischen einiges verlernt.
Ja, mein Mann ist zwar Muslim, aber es gibt keinen Bart, es gibt gar nichts. Keine Kopftücher und nichts, auch nicht in der Familie. Seit wir uns kennen, war er nicht ein einziges Mal in einer Moschee, und er hat auch nicht gefastet. Aber wir haben das Opferfest gefeiert, haben natürlich alle christlichen Feste gefeiert und auch das türkische Zuckerfest, das alles mit Kind und Geschenken. Das Einzige, wo er türkisch war und ganz streng leider, wie ein Haustyrann fast, das war mit dem Weggehen. Diese Generation hatte immer extreme Angst, dass den Mädels was passiert. Die Tochter durfte von Kind an nicht weg, für sie war das sehr schwierig. Und ich konnte auch nicht weggehen, also weder zu Betriebsfeiern noch mal mit einer Freundin ins Kino oder so. Ging nicht. Da hatten wir natürlich unsere Differenzen. Aber ich hatte zum Glück meine zwei Leben gleichzeitig. Mein türkisches und dann mein deutsches bei meiner Arbeit. Ich habe ja immer gearbeitet und gut verdient.“
Im Krieg war er Offizier
Ich bitte sie, mir ein bisschen mehr über sich zu erzählen. Sie zögert einen Moment und beginnt dann: „ Soll ich vorne anfangen? Also ich bin 1945 geboren in Berlin und war ein Waisenkind. Mein Vater ist im Krieg erschossen worden – ich glaube, er hat gar nicht mehr erfahren, dass es mich gibt –, und meine Mutter ist 1946 gestorben an einer hochgradigen Entzündung auf dem Fußweg ins Westend-Krankenhaus. Da war sie 23. Mein Vater war fünf Jahre älter. Ich bin dann bei meinen Großeltern aufgewachsen, hier in Berlin. Mein Vater war aus Graz, Österreicher, von Beruf eigentlich Möbeltischler. Im Krieg war er Offizier. Ich habe die Waisenrente in Schilling bekommen und hatte zwei Staatsangehörigkeiten. Später habe ich mich dann für die deutsche entschieden. Mein Großvater war Diplomtechniker bei Siemens, die Oma war zu Hause. Wir wohnten in Siemensstadt, und als ich 14 war, starb auch meine Großmutter. Das war ganz furchtbar. Aber meine Jugend war trotzdem sehr schön. Ich habe meine Schule gemacht, Realschule, und dann meine Ausbildung zum Bürokaufmann. Da hat man Stenografie gelernt, Schreibmaschine. Steno habe ich schon mit acht Jahren gemacht mit meiner Freundin, nur so zum Vergnügen. Einmal war ich in meiner Jugend Berliner Meisterin im Schreibmaschinenschreiben. Ja. Ich habe die zweijährige Ausbildung als Bürokaufmann in einem Großhandelsunternehmen gemacht. Die wollten mich übernehmen, aber das Geld war zu wenig, da bin ich gleich nach der Prüfung zu einem Versicherungsmakler gegangen. Dort war ich etwa zehn Jahre lang.
1969 habe ich, wie gesagt, meinen Mann kennengelernt und ihn 1970 geheiratet. 1973 kam meine Tochter, und da habe ich dann aufgehört bei dem Versicherungsmakler. 1974 habe ich angefangen im Klinikum Steglitz als Oberarztsekretärin. Dort war ich zehn Jahre. Unser leitender Oberarzt ist Chefarzt geworden und ich Chefarztsekretärin. Ich bin dann mit ihm zusammen ins Behring-Krankenhaus gegangen. Ich war praktisch bei ihm Chefsekretärin, bis er in den Ruhestand ging. Dann wollte ich auch nicht länger dort bleiben. Ich hätte mich auf einen neuen Chef einstellen müssen, und das ist ja ein sehr kompliziertes Vertrauensverhältnis und Zusammenarbeiten. Ich bin dann 2008 mit 63 ausgeschieden und in die Altersteilzeit gegangen. Die gibt es ja heute nicht mehr, die Fördermittel sind vom Bund gestrichen worden. Es hat sich überhaupt so viel verändert.
Das können Sie auch schon an den Kliniken sehen. Früher sagten alle zum Klinikum Steglitz nur: das Klinikum. Jeder wusste, was gemeint war. Das Klinikum war sehr modern, sehr amerikanisch. Es war der größte Krankenhauskomplex in Europa Ende der 60er Jahre. Bei mir hieß es noch Uniklinikum Steglitz, dann haben sie es umbenannt in Universitätsklinikum Benjamin Franklin, warum, das weiß ich auch nicht. Und nach der Wende – da war ich ja schon eine Weile weg – kam die Fusion mit der Charité, und seitdem heißt es Campus Benjamin Franklin. Und im Behring-Krankenhaus kam es noch schlimmer. Da waren wir ja anfangs noch städtisch, öffentlicher Dienst, und nicht in Privathand. Es war das Bezirkskrankenhaus Zehlendorf. Ein gutes Krankenhaus, auch mit vielen Privatpatienten, durch die reichen Bezirke Zehlendorf, Dahlem, Lichterfelde. Irgendwann hat das dann angefangen mit den Übernahmen, wir wurden geschluckt von einer Stiftung, dem orthopädischen Krankenhaus Oskar-Helene-Heim, gleich zusammen mit der Lungenklinik Heckeshorn. Das war so Ende der 90er Jahre. Und alles zusammen hat dann der Helios-Konzern, 2004 glaube ich, aufgekauft, und der ist inzwischen auch geschluckt worden von dem Gesundheitskonzern Fresenius. Nun heißt es Helios Klinikum Emil von Behring.
Mein Chef und ich, wir hatten uns das auch nicht so gedacht mit dem Krankenhaus und mit der Privatisierung, dass wir plötzlich einem Unternehmen oder so was gehören. Es gab viel Stress rundum, denn es sind Leute entlassen worden. Der Helios-Konzern, die hatten einen ganz anderen Stil. Das Behring hatte so was Familiäres, Zugewandtes, wo also jeder Patient als Mensch gesehen wurde und nicht wie eine Sache oder Ware. Das wird sicher von Helios abgestritten, aber die Realität ist genau so, wie man es immer hört. Wenn ich zurückblicke auf die frühen 70er Jahre, als ich im Klinikbereich angefangen habe zu arbeiten, dann muss ich sagen, dass das Gesundheitswesen sich im Laufe der Jahrzehnte sehr verändert hat. Technisch ist ja unheimlich viel möglich geworden zur medizinischen Versorgung der Patienten, aber auf der menschlichen Ebene ist das ganz anders. Da wurde alles abgebaut. Da ist eine Wüste. Die Gesundheitspolitik rechnet nur noch und schreibt vor, sie ist nicht mehr dem Patienten, also dem kranken Menschen zugewandt. Der muss nehmen, was übrig ist. Der ganze Stil ist anders, aufgrund … wie soll ich das sagen … des Rechnens … und des Denkens, und zwar nur noch an die Kohle. Das muss ich jetzt mal so ausdrücken. Ich habe das Gefühl, die Ärzte – es gibt natürlich auch Ausnahmen, aber ich sage jetzt mal ‚die Ärzte‘ –, die sind nicht mehr so wie früher an der Medizin interessiert, sie erbringen ihre Leistungen, und die Krankheiten sind für sie einfach nur noch Posten zum Abrechnen. Der Nächste bitte! Fertig. Und wir haben es ja jetzt grade gehört in den Nachrichten, dass in Deutschland zu viele künstliche Hüft- und Kniegelenke eingesetzt werden und mehr als die Hälfte aller Wirbelsäulenoperationen angeblich unnötig sind. Also da werden Menschen ohne medizinischen Grund einfach operiert, nur weil’s Geld bringt? Das ist traurig, dass wir so weit gekommen sind.
Und auf der anderen Seite wird wirklich Wichtiges von der Kasse nicht mehr bezahlt, zum Beispiel die Überprüfung vom Augeninnendruck. Im Alter muss das sein. Wenn ich’s nicht selbst zahlen kann, dann lass ich es eben einfach. Aber wenn ich dann auf einmal blind werde, dann heißt es: Hätten Sie den Augeninnendruck doch rechtzeitig messen lassen, dann wäre die Krankheit auch rechtzeitig erkannt worden, nun ist es leider zu spät. Arme Leute trifft es besonders hart. Auch Leute wie meinen Mann mit seinen 400 Euro Rente, wie man sieht! Was soll so einer denn machen? Gucken Sie mal, wir kaufen für sein Sauerstoffgerät immer so ein besonderes Wasser, keimfreies, entmineralisiertes Wasser. Ein Behälter mit einem halben Liter kostet 15 Euro, und der reicht acht Tage. Das zahlen meine Tochter und ich. Oder auch manche Medikamente, die es früher auf Rezept gab, die soll sich der Patient jetzt selber kaufen. Ja wie denn??! Es ist nichts Gutes, was man uns mit den Reformen als Patient angetan hat!“