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Archiv-Artikel

„Der Mauersegler ist ein Extremist“

Derk Ehlert

„Die Berliner sind richtige Tierliebhaber. Was zum Problem werden kann, wenn sie Wildtiere füttern. Aber Vogelbeobachtung ist hier leider noch kein Volkssport wie in England“„Stadttauben sind keine Zugvögel. Sie können sich nicht in anderen Regionen anstecken. Kämen infizierte Vögel her, wäre eine Gefahr da. Aber Zugvögel haben einen anderen Lebensraum“

Derk Ehlert, der Wildtierbeauftragte des Senats, ist ein begeisterter Vogelkundler. Dass das Berliner Geflügel jetzt aus Furcht vor der Vogelgrippe in den Stall muss, hält der 38-Jährige für übertrieben, aber dennoch akzeptabel. Eine begründete Gefahr einer Ansteckung durch Wildvögel sei noch nicht erkennbar. Im Alltag beschäftigt er sich auch mit Füchsen, Mardern und Wildschweinen, die durch Berlin ziehen. Und wirbt bei den Berlinern um Verständnis für die Tiere. Sein Lieblingsvogel ist der Mauersegler, der gern in Berliner Altbau-Quartieren nistet. Der Vogel kann zwei bis drei Jahre ununterbrochen in der Luft bleiben

INTERVIEW RICHARD ROTHER UND ULRICH SCHULTE

Herr Ehlert, vor ein paar Tagen wurden in der Nähe von Moskau Hühner mit dem Vogelgrippevirus entdeckt. Wie lange braucht ein Zugvogel, um von Moskau nach Berlin zu fliegen?

Derk Ehlert: Das kommt ganz auf die Größe des Vogels an. Ob die Wildvögel hauptsächlich Überträger des gefährlichen Virus H5N1 sind, weiß noch niemand. Allerdings kann man das auch nicht ausschließen. Theoretisch kann ein mittelgroßer Vogel von Moskau bis hierher nonstop durchfliegen, mit einer Geschwindigkeit von rund 50 Kilometer pro Stunde. Praktisch machen die Vögel aber immer zwischendurch auf Rastplätzen halt.

Wie groß ist die Gefahr durch eventuell infizierte Zugvögel?

Die Wahrscheinlichkeit, dass die Grippe über Hausgeflügel weiterverbreitet wird, ist viel höher. Im Stall gibt es den direkten Infektionsweg.

Ist die Maßnahme, Hühner in den Stall zu sperren, eine Panikreaktion?

Wenn damit bestimmte Bestände – etwa Freilandhühner und andere – voneinander getrennt werden, ist das sinnvoll. Als reine Abwehrreaktion gegenüber Wildvögeln wäre sie übertrieben.

Ist es vorstellbar, dass die Wildgans in einem Berliner Hühnerhof landet?

Sicher wird keine Blessgans oder Saatgans bei uns landen. Theoretisch denkbar wäre aber die Variante, dass eine infizierte Wildgans irgendwo auf einem See landet, zu dem auch Hühner in Freilandhaltung Zugang haben. Und sie sich so infizieren. Aber die Wahrscheinlichkeit, dass die Vogelgrippe über illegale Tiertransporte eingeschleppt wird, ist viel, viel höher als die Übertragung durch Wildvögel.

Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich das gefährliche Virus mit menschlichen Viren mischt – und eine Übertragung von Mensch zu Mensch möglich wird?

Das weiß ich nicht, ich bin kein Virologe.

Wie viele Vögel fliegen über Berlin?

Das kann keiner genau sagen. Gerade kleine Singvögel wie Wacholder- oder Rotdrosseln fliegen nachts, nur ein erfahrener Ornithologe hört sie fiepen. Nur die großen Vögel, Kraniche zum Beispiel, fallen auf.

Kraniche kreischen, oder?

Sie trompeten eher. Im Moment sieht man auch Wildgänse, die rufen anders. Saat-, Bless- oder Graugänse fliegen in der typischen Keilform.

Fliegen sie übers Stadtgebiet oder drum herum? Die Thermik ist sicher eine andere …

Sowohl als auch. Die Wildgänse rasten vor allem im Norden oder Westen außerhalb Berlins. Wenn aber ein richtiger Zug mit Rückenwind kommt, geben die Stoff, und es interessiert nicht, ob Berlin drunter liegt. Greife dagegen zieht die Stadt magisch an, weil sie sich in den warmen Aufwinden hochschrauben können.

Wie viele Kilometer fliegen die Vögel am Stück?

Das ist unterschiedlich – von 20 Kilometern am Tag bis 1.000. Eine Singdrossel, ein winziges Tier, wurde mal auf Helgoland beringt und einen Tag später in der Bretagne eingefangen.

Wie viele Vogelstimmen können Sie unterscheiden?

Nun, um sich Orni nennen zu dürfen, sollten es schon 200 sein. Man unterscheidet Rufe und Gesänge …

Orni?

So nennen sich Ornithologen untereinander. Ich bin einer der schlechteren, was das Erkennen von Stimmen angeht. Ein Bekannter befasst sich mit Laubsängern und kann 20 verschiedene Laubsänger anhand der Rufe im ersten Jahr unterscheiden. Das ist in etwa so, als könnten Sie jeden Ostfriesen an seinem Dialekt erkennen. Ich befasse mich mit Singvögeln. Natürlich habe ich Lieblinge, wie den Mauersegler.

Was mögen Sie am Mauersegler?

Er ist ein Extremist. Er ist nur wenige Gramm schwer, sieht so ähnlich aus wie eine Schwalbe und bleibt pausenlos in der Luft. Nachdem die Jungen flügge geworden sind, fliegen sie zwei, drei Jahre ununterbrochen. Seine Beine sind total zurückgebildet. Erst wenn sie zum ersten Mal brüten, suchen sie ein Quartier.

Alles andere erledigen sie in der Luft?

Sie paaren sich in der Luft, haben Mauser in der Luft und schlafen in der Luft. Nach zwei, drei Sekunden Schlaf sind sie wieder fit. Im Winter fliegen sie nach Afrika, ihre Flugleistung liegt bei 240.000 Kilometern im Jahr. Das sind absolute Spezialisten. In Berlin leben sehr viele Mauersegler, die alten Gründerzeithäuser bieten gute Nistplätze.

Ist Berlin vogelfreundlich?

Die Stadt ist grün, von Wasserläufen wie Spree oder Havel durchzogen, es gibt viel Leerstand – insofern finden hier 170 Brutvogelarten gute Gegebenheiten. Außerdem gibt es verschiedene Biotope, von Trockenrasen-, Dünen- bis zu reinen Waldgebieten.

Lieben die Berliner Vögel?

Ja, sie sind richtige Tierliebhaber. Was manchmal zum Problem werden kann, wenn sie Wildtiere – Vögel, aber auch Füchse, Wildschweine oder Marder – füttern. Aber Vogelbeobachtung ist hier leider noch kein Volkssport wie in England.

Wie wird man eigentlich Wildtierbeauftragter des Senats?

Bevor ich hierher kam, war ich selbstständiger Landschaftsplaner, habe unter anderem ornithologische Stellungnahmen geschrieben für Großvorhaben. Ende der 90er habe ich in der Umweltverwaltung angefangen, die Wildtiere in Berlin zu betreuen. In der Bevölkerung gibt es zwei Lager: Das eine sagt, schießt die Viecher ab, und das anderen will sie am liebsten füttern. Falsch ist beides, darüber klären wir die Leute auf.

Funktioniert das?

Ja. Schön ist zu sehen: Die Leute fangen an sich zu interessieren. Es muss nicht jeder Aktivist werden, Naturschutz fängt ja schon beim ökologischen Gestalten des eigenen Gartens an.

Mögen Sie eigentlich Tauben?

Klar mag ich Tauben. Die Haustauben machen Probleme, gut, aber wir haben in Berlin auch Greifvögel – zum Beispiel 50 Habichtpärchen. Die reduzieren den Bestand um rund 20.000 Tiere im Jahr. Neben den Haustauben gibt es noch Ringeltauben, sie sind etwas dicker, außerdem die schmaleren Türkentauben, die aus Südeuropa zugewandert sind. Kennen Sie bestimmt, sie hat diesen dreisilbigen Ruf: „Huhu-huh, Huhu-huh, Huhu-huh“.

„Huhu-huh“? Das sind doch Käuzchen.

Nachts kann das vielleicht ein Käuzchen sein, aber tagsüber sind das Türkentauben. Und die fünfsilbige Variante – „Huhu-huh-huhu, Huhu-huh-huhu“ –, das ist eine Ringeltaube. Ganz leicht, man muss einfach nur zählen.

Kurz zurück zur Vogelgrippe. Kommen die Berliner Stadttauben als Überträger in Betracht?

Unsere Haustauben sind keine Zieher, sie können sich nicht in anderen Regionen anstecken. Wenn infizierte Vögel herkämen, wäre eine Gefahr theoretisch da.

Könnte eine Wildgans denn Stadttauben anstecken?

Nur theoretisch. Beide Vogelarten haben einen anderen Lebensraum, so dass sie sich nicht nah genug kommen, um sich anzustecken.

Was fasziniert Sie so an Vögeln?

Mich fasziniert die Natur. Die Symbiose zwischen Mensch, Natur und den Veränderungen, die finde ich spannend. Jeder kennt die Amsel, aber trotzdem ist sie eine Exotin in ihrem Verhalten – je mehr ich lerne, desto klarer wird mir, wie wenig ich weiß. Mein Großvater war auch Ornithologe. Ich habe mir schon mit fünf Jahren statt einer Carrera-Bahn ein Fernglas gewünscht.

Der Traum vom Fliegen hat etwas Poetisches. Spielt das bei Ihrer Leidenschaft für Vögel auch eine Rolle?

Eigentlich nicht, ich finde eher interessant zu erforschen, warum die Vögel sich so verhalten, wie sie es tun.

Wollten Sie als Kind nicht manchmal mit den Vögeln mitfliegen?

Daran kann ich mich nicht erinnern. Ich wollte eher die Vögel schützen. Als 13-Jähriger habe ich in Zehlendorf mit einem Freund beim Bürgermeister probiert, ein Grundstück vor der Bebauung zu bewahren, weil es eine Brutstätte für Vögel war. Das ist uns sogar gelungen – weil das Grundstück so sumpfig war, dass es sich nicht zum Bebauen eignete. Das Gelände besuche ich heute noch.

Ist auch die Regelmäßigkeit der Flugbewegungen ein Reiz?

Im Gegenteil, alles ist in Veränderung. Vor zehn Jahren war undenkbar, dass der Kranich in solchen Mengen auftritt und hier im Umland überwintert. Jetzt tut er es. Für den ist wichtig, dass er schnell wieder ins Heimatquartier zum Brüten kommt. Der hat keine Eigentumswohnung mit Schlüssel, er muss jedes Jahr um seinen Nistplatz kämpfen.

Was bewegt den Kranich loszuziehen?

Verschiedene Dinge kommen zusammen – das abnehmende Tageslicht, die Sterne, der Mond. Sie nehmen Magnetfelder war. Der Zugweg ist ein Instinkt, aber die Richtung muss erlernt werden. Die Jungen fliegen den Eltern hinterher.

Wie orientieren Sie sich in der Luft?

Das weiß man nicht genau. Man vermutet, dass Kraniche aus den Gestirnen die grobe Richtung ableiten, Magnetfelder helfen bei der Feinabstimmung und kurz vor dem Ziel erkennen sie vielleicht die Landschaft. So ähnlich, wie Sie vielleicht Jahr für Jahr nach Italien fahren: Erst wissen Sie, dass Sie in Richtung Süden über die Alpen müssen. Dann erkennen Sie auf der Autobahn Hinweisschilder, im Ort wissen Sie, hinter dem gelben Haus links ist es. Störche müssen den Zug übrigens nicht lernen, die kriegen schon im Ei die Flugrichtung mit. Da haben Sie teilweise im gleichen Gelege einen West- und einen Ostzieher.

Was ist das?

Die einen Brandenburger Störche ziehen über Spanien und Gibraltar nach Südafrika, die anderen über den Bosporus. Die Westzieher haben einen Vorteil – ihr Weg ist kürzer, sie sind schneller zurück und besetzen die Horste.

Die sie immer wieder finden?

Genau. Weißstörche, denen man ja lebenslange Partnertreue nachsagt, sind in Wirklichkeit auf den Horst geprägt. Das heißt: Der Mann ist meist zuerst da und setzt sich drauf. Und ruft. Dann kommt das Weib, setzt sich dazu, und sie klappern. Dem Männchen ist aber egal, was für ein Weibchen kommt. Oft sitzt also schon ein junges, hübsches Ding da, wenn die Alte nach Hause kommt.

Und dann gibt’s Stress.

Sie versucht, die andere zu verdrängen. Wenn sie das schafft, schmeißt sie auch die Eier aus dem Nest. Oder sie verliert und muss abziehen. Meist gewinnen aber die Zu-spät-Gekommenen. Sie haben einen größeren Brutwunsch und sind aggressiver.

Wenn Sie sich in einen Vogel verwandeln könnten, welchen würden Sie wählen?

Den Mauersegler, weil der immer in der Luft ist. Aber im Grunde wäre mir das Vogelleben zu gefährlich: Als großer Vogel muss man damit rechnen, abgeschossen zu werden, obwohl das verboten ist. Als kleiner wird man von anderen gefressen. Zudem ist die Gefahr von Windrädern nicht zu unterschätzen.