: „Der Mann, der an die Tür klopft“
VON ORHAN PAMUK
(…) Die wundersamen Mechanismen der Romankunst dienen dazu, der ganzen Menschheit unsere eigene Geschichte als die Geschichte eines anderen zu unterbreiten. Und doch ist dies nur die eine Seite dieser großen Kunstform, die seit vierhundert Jahren die Leser in ihren Bann zieht und uns Schriftsteller beflügelt und beseelt. Die andere Seite ist das, was mich in die Straßen von Frankfurt und von Kars geführt hat: nämlich die Möglichkeit, die Geschichte eines anderen als unsere eigene Geschichte zu erzählen. So versuchen wir mittels von Romanen erst die Grenzen anderer zu verschieben und dann unsere eigenen. Die anderen werden zu „uns“, wir zu den „anderen“. Natürlich kann ein Roman auch beides zugleich. Er eröffnet uns die Möglichkeit, sowohl unser Leben als das eines anderen zu erzählen, als auch das Leben von anderen Menschen als das unsere zu schildern. (…)
Wir würden es heute als Manko empfinden, wenn ein deutscher Schriftsteller, der mit dem Anspruch aufträte, die deutsche Gegenwart abzubilden, die Türken in Deutschland und die ihnen entgegengebrachten Ressentiments in seinem Werk ganz einfach ausblendete. Und ich persönlich empfinde es als Manko, wenn ein türkischer Schriftsteller heute nicht auf die Kurden, auf die Minderheiten in der Türkei und auf die unausgesprochenen dunklen Punkte unserer Geschichte eingeht. (…)
Die Probleme zwischen dem Osten und dem Westen, oder, wie ich es lieber bezeichne, zwischen der Tradition und der Moderne, zwischen meinem Land und Europa, haben immer auch mit einem nie ganz zu tilgenden Schamgefühl zu tun. Ich versuche dieses Gefühl stets im Zusammenhang mit seinem Gegenbegriff zu sehen, nämlich dem „Stolz“. Wo jemand allzu stolz und selbstgewiss auftritt, steht bekanntlich oft ein „anderer“ im Schatten von Scham und Erniedrigung. Und wer sich erniedrigt vorkommt, bei dem macht sich gern stolzer Nationalismus bemerkbar. Diese Art von Scham, Stolz, Erniedrigung und Wut ist das Material, aus dem ich meine Romane forme. Da ich aus einem Land komme, das Einlass nach Europa begehrt, weiß ich nur allzu gut, wie leicht solche heiklen Gefühle sich gefährlich steigern können. So möchte ich von dieser Scham in dem Flüsterton sprechen, den ich aus den Romanen Dostojewskis zu vernehmen glaube, so als täte ich ein Geheimnis kund. Die Romankunst hat mich nämlich gelehrt, dass es eine befreiende Wirkung hat, verborgene Schamgefühle mit anderen zu teilen.
Doch wo diese Freiheit sich zu entfalten beginnt, da spüre ich auch schon die moralischen Bedenken, die es mit sich bringt, wenn man andere vertritt und an ihrer Stelle spricht. Das erwähnte heikle Gefühl, der nationalistische Stolz oder die patriotische Empfindlichkeit werden vom Vorstellungsvermögen des Schriftstellers, von dem Spiegel, den er ihnen vorhält, verunsichert. Jene Wirklichkeit, die uns nur stumm beschämt, solange sie geheim bleibt, wird durch die Imagination des Schriftstellers ihrer Geheimnishaftigkeit beraubt und damit zu einer neuen Welt, mit der man sich auseinander zu setzen hat. Wenn der Schriftsteller mit den die Welt bestimmenden Regeln und der verborgenen Geometrie des Lebens hantiert und spielt wie ein Kind und dabei mehr seiner Ahnung folgt als einer Gewissheit, hebt in Familien, Sippen und Gemeinschaften ein Rumoren an. Ein glückliches Rumoren. (…)
Religionsgemeinschaften, Stämme oder Völker gelangen heute über Romane zu den tiefsten Einsichten über sich selbst, diskutieren mit Hilfe von Romanen ihre Identität, und selbst wenn die meisten von uns nur zum Roman greifen, um sich zu amüsieren oder einfach nur die Flucht aus der Alltagswelt zu ergreifen, werden sie beim Lesen unbewusst über die Gemeinschaft, das Volk oder die Gesellschaft, der sie angehören, zu reflektieren beginnen. Deshalb ist der Roman nicht nur für das Glück und den Stolz der Völker, sondern auch für ihre Wut, ihre Empfindlichkeit und ihre Scham ein fruchtbares Terrain. Wegen dieser Empfindlichkeit, dieser Scham und Wut wird noch immer Schriftstellern gezürnt, wird nach wie vor eine eklatante Intoleranz an den Tag gelegt, werden Romane verbrannt und Schriftsteller vor Gericht gezerrt. (…)
Denken wir doch daran, wie über Europas Grenzen hinaus neue Kontinente, neue Kulturen und Zivilisationen mit der Romankunst zusammengetroffen sind, sie sich begierig und mit neuer Inspiration angeeignet und daraus ein Mittel zur Selbstdarstellung geschaffen haben, so dass auch sie Europas teilhaftig wurden. Denken wir an die Entstehung der großen russischen Romankunst und an den Roman Lateinamerikas, der Teil der europäischen Kultur geworden ist. Allein die Romanlektüre zeigt uns schon, dass die Grenzen, die Geschichte und das Wesen Europas in fortwährendem Wandel begriffen sind. Das alte Europa, das in den französischen, russischen und deutschen Romanen aus der Bibliothek meines Vaters geschildert wurde, das Nachkriegseuropa meiner Kinderzeit und das heutige Europa sind allesamt geografisch und inhaltlich unterschiedliche Begriffe. Und dennoch lebt in mir ein beständiger Europagedanke fort, auf den ich nun zu sprechen kommen möchte.
Nun ist aber Europa für einen Türken ein sehr heikles, zweischneidiges Thema. Das hoffnungsfrohe Warten des Mannes, der an eine Tür klopft und um Einlass bittet, die Neugier und zugleich die Angst, abgewiesen zu werden, und die Wut darüber: All das geht mir wie den meisten Türken nie aus dem Sinn, und von da ist es nur noch ein kleiner Schritt zur Scham. Jetzt, wo der seit dem ersten Aufnahmeantrag dauernde Prozess des Wartens und Hoffens, der uneingelösten Versprechen so weit gediehen ist, dass ein Beitritt der Türkei zur EU wahr werden könnte, wird leider in Europa von gewissen gesellschaftlichen und politischen Kreisen gegen die Türkei Stimmung gemacht.
Die Art und Weise, in der bei der letzten Bundestagswahl von manchen Politikern auf Kosten der Türkei und der Türken Wahlkampf betrieben wurde, finde ich nicht weniger gefährlich als das Gebaren mancher türkischen Politiker, die gegenüber dem Westen und Europa gern auf Konfrontationskurs gehen. Es ist das eine, den türkischen Staat wegen seiner Demokratiedefizite oder seiner wirtschaftlichen Lage zu kritisieren, und es ist etwas anderes, die ganze türkische Kultur oder die türkischstämmigen Menschen herabzuwürdigen, die in Deutschland unter weit schwierigeren Bedingungen leben als die Deutschen selbst. Die Türken wiederum reagieren auf diese Verunglimpfungen mit der Empfindlichkeit des Abgewiesenen. In Europa eine Türkenfeindlichkeit zu schüren, führt dazu, dass sich in der Türkei ein europafeindlicher, dumpfer Nationalismus entwickelt. Wer an die Europäische Union glaubt, sollte einsehen, dass es hier um die Alternative zwischen Frieden und Nationalismus geht. Hier liegt die Entscheidung, die wir treffen müssen. Frieden oder Nationalismus. Ich für mein Teil bin überzeugt, dass der Friedensgedanke das Herzstück der Europäischen Union ist und dass das Friedensangebot, das die heutige Türkei Europa macht, nicht ausgeschlagen werden darf. (…)
Was die Türkei und die Türken Europa zu bieten haben, das ist in erster Linie Frieden, das ist der Wunsch eines muslimischen Landes, an Europa teilzuhaben, und das sind die Sicherheit und das Stärkepotenzial, die Europa und Deutschland gewinnen würden, sollte diesem friedlichen Anliegen der Türkei entsprochen werden. In all den Romanen, die ich in meiner Jugend las, wurde Europa nicht über das Christentum definiert, sondern vielmehr über den Individualismus. Europa wurde mir auf attraktive Weise durch Romanhelden vermittelt, die um ihre Freiheit kämpfen und sich verwirklichen wollen. (…) Wenn Europa aber vom Geist der Aufklärung, der Gleichheit und der Demokratie beseelt ist, dann muss die Türkei in diesem friedliebenden Europa ihren Platz haben. Genau wie ein Europa, das sich nur auf das Christentum stützte, wäre eine Türkei, die ihre Kraft nur aus der Religion bezöge, eine die Realitäten verkennende, nicht der Zukunft, sondern der Vergangenheit zugewandte Festung.
Nun lässt sich unschwer vorstellen, dass jemand an die Europäische Union glaubt, der so wie ich in Istanbul in einer westlich orientierten, laizistischen Familie aufgewachsen ist. Schließlich spielt mein Lieblingsverein Fenerbahçe schon seit meiner Kindheit im Europapokal. Millionen von Türken sind wie ich aus tiefstem Herzen davon überzeugt, dass die Türkei ihren Platz in Europa hat. Viel wichtiger ist, dass heute auch die Mehrheit der konservativen religiösen Türken und deren politische Vertreter die Türkei in der Europäischen Union sehen und gemeinsam mit Ihnen an der Zukunft Europas mitwirken möchten. Es dürfte schwer sein, nach Jahrhunderte langen Kämpfen und Kriegen diese freundschaftlich ausgestreckte Hand zurückzuweisen, ohne es später einmal bereuen zu müssen. So wie ich mir keine Türkei vorstellen kann, die nicht von Europa träumt, so glaube ich auch nicht an ein Europa, das sich ohne die Türkei definiert.
Übersetzung aus dem Türkischen von Gerhard Meier