Früher war früher. Heute ist heute. Für die Rentenversicherung sind es ungeklärte Zeiträume
: Ich war zu dumm und zu faul

LIEBLING DER MASSEN

von Uli Hannemann

Im Warteraum der Deutschen Rentenversicherung wird auf dem Display meine Nummer aufgerufen und ich begebe mich zum angezeigten Beratungsplatz. Mit dabei habe ich den Brief, der mir etliche ungeklärte Zeiträume ankreidet, sowie die mir verbliebenen Beweise meiner Existenz: Reisepass, Abiturzeugnis, Geburtsurkunde.

Mehr habe ich nicht. Irgendwann habe ich mal alles andere weggeschmissen: alte Lohnsteuerkarten, Sozialversicherungsausweise, Mietverträge, Studienbescheinigungen. Das ist Freiheit. Abgesehen vom Steuerrecht, weiß ich zudem von keiner Pflicht, sich an sein Leben zu erinnern und alles zu belegen. Früher war früher. Heute ist heute. Ich bin auch nicht der Typ, der seine alten Schwärme cyber-stalkt. Man muss die Erinnerung regelmäßig ausmisten, um Platz für neuen Mist zu schaffen.

Folglich sitze ich auch nicht an dunklen Winterabenden allein zu Hause, im Kerzenschein bei einem Glas Wein, und blättere in vergilbten Sozialversicherungsausweisen, um mir den Uli von früher vors tränenfeuchte Auge zurückzurufen: wie sozialversichert ich da war. Und wie studienbescheinigt. Nur Psychopathen, Faschisten und Menschen, die sich selbst längst aufgegeben haben, hegen die Vergangenheit.

Nun sitze ich dem Mitarbeiter gegenüber. Er wirkt gelangweilt. Die größte Nachweis­lücke beträgt im Stück 13 Jahre. „Wat hamse denn da jemacht?“ Er blickt durch mich hindurch, als würde er aufs Meer schauen. Dabei ist hinter mir nur der Raumtrenner seines Beratungs­kobens.

Was soll ich ihm sagen? Ich hab mal studiert. Alles Mögliche. Ich war aber zu dumm und zu faul. Ich habe nicht aufgepasst und bin selten hingegangen. Ich war zugleich überfordert und gelangweilt. Ich wusste überhaupt nicht, was ich da sollte. In keinem Fach, jemals. Mein Universitätsdasein war eine einzige Aneinanderreihung von entsetzlichen Missverständnissen.

In Anglistik war ich eingeschrieben, weil ich in Englisch gute Schulnoten hatte und deshalb irrtümlich dachte, dass ich Englisch könnte. Deutsch konnte ich sogar wirklich, also wechselte ich zur Germanistik, nur um festzustellen, dass die bloße Beherrschung der Grammatik wenig Anerkennung fand. Geschichte studierte ich, weil ich als Kind immer so gern den Geschichten meines Großvaters lauschte. Auch da war die Ernüchterung groß: Aethelred, der Unberatene, das Danegeld, Sven Gabelbart – selbst die Büchermotten, die sich durch die verstaubten Schinken in der Institutsbibliothek fraßen, lagen vor Langeweile tot unter den Regalen, wo die Putzkraft sie nur auffegen musste.

Also versuchte ich es mit Publizistik, weil ich eines Tages vielleicht mal irgendetwas publizieren wollte, doch dafür brauchte man kein Studium. Wer ohnehin nie ernsthaft vorhatte, einen dieser entmündigenden Erwachsenenberufe zu ergreifen, benötigte für nichts ein Studium. Das sah ich dann auch relativ bald ein und trat eine lange Karriere als Karteileiche an. Wegen diverser mit dem Studentenstatus verbundener Vorteile blieb ich jedoch eingeschrieben und wechselte nur jedes Mal das Fach, wenn mir die Prüfungsordnung gefährlich auf die Pelle rückte. So sammelte ich fleißig zugangsfreie Studiengänge wie Mathematik, Politologie und noch ein paar weitere nebulöse Quatschwissenschaften, an die ich mich im Detail nicht mehr erinnere.

Ich brachte es zu großer Geschicklichkeit, mich den Häschern des Systems zu entziehen. Zwangsberatung und Studiengebühren vermied ich durch Flucht ins benachbarte Potsdam, wo ich mich für Philosophie oder so einschrieb. Dort, auf einer Bank vor dem Immatrikulationsbüro, wurde ich erstmals von einem ebenfalls wartenden Kommilitonen gesiezt. Angesichts einer derart aufwendigen Lügenlogistik wäre es wohl einfacher gewesen, tatsächlich zu studieren.

So genau will der Rentenmann das alles gar nicht wissen. Es ist unklar, ob sich seine Aura aus Arroganz und latenter Feindseligkeit eher aus Heterophobie oder einem fatalistischen Überdruss an seinem Job speist, doch er weiß sie perfekt zu dosieren und so gerade noch die Eskalation zu vermeiden. Von diesem Mann also wünsche ich mir, dass er mir hilft.

Ich habe keine Unterlagen. Ich habe keine Erinnerung. Ich habe keine Ahnung. Das sage ich ihm und versuche, dabei niedlich auszusehen: hilflos, aber auch ein bisschen verschmitzt. Mit sieben Jahren hätte das funktioniert, jetzt wirkt es wohl eher wie ein Obdachloser, der einen halbwegs guten Tag hat.

Das verrät mir jedenfalls sein Tonfall. „Dit müssen Sie doch wissen, wat Sie in der Zeit jemacht haben. Sie müssen die Belege beibringen.“

Und ich hatte gehofft, er hätte die Daten. Er hat doch Computer, er muss doch die Informa­tionen haben über mich, den gläsernen Bürger mit den Glasknochen in seinem Glashaus. Habe ich gedacht, naiv nun immerhin wie ein Siebenjähriger. Am Telefon hieß es, man könne die Sache hier gemeinsam klären. Nur deswegen habe ich diesen Termin vereinbart und bin bis an den Arsch der Stadt gefahren. Nun darf ich mich selber um Bestätigungen kümmern. Für welchen Zeitraum? Für welche Fächer? Bei welcher Uni? Was für eine kafkaeske ­Kacke, ich kenne doch meine damalige Studentendingsnummer gar nicht, ich dreh mich im Kreis. Schwester Immatriculata, die Bettpfanne bitte!