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Archiv-Artikel

Immer schön unentspannt

Poplinke, Live-Rock-’n’-Roller und Querdenkerposen: auf Spurensuche in der vermeintlichen Mehrheit links von der CDU. Über produktive linke Berührungsängste und die falsche Suche nach einem Wir

VON KLAUS WALTER

„Es war das Fin de Siècle, ein Mythos ohne Glanz. Man hatte sich so sehr an Schnelligkeit gewöhnt, dass sie nicht mehr leidenschaftlich und hoffnungsfroh beklatscht, sondern als Existenzgrundlage angesehen wurde. (…) Das Gewand, in dem die Zukunft daherkam, hatte nichts mehr von der Wunderhaftigkeit früherer Tage. Über Maschinen konnte man zwar mit jedem Winkel der Erde kommunizieren und es war die Rede davon, dass es bald möglich wäre, ohne Körper zu reisen. Aber vieles im Leben der Menschen erinnerte doch an vergangene Epochen. (…) Zum Beispiel, daß die Erde eine Scheibe sei, die von der einen Seite von der Sonne beschienen würde, während die andere für ewig im Dunklen läge.“

Dieser weitblickende Text stammt aus „Fin de Millénaire“ von den Goldenen Zitronen. Das Lied ist neun Jahre alt. Die Goldenen Zitronen hatten schon 1996 erkannt, dass (vermeintlich) linke Errungenschaften von Punk, Techno und anderen künstlerischen Avantgarden von der Gegenseite genutzt werden: dass Schnelligkeit, also Flexibilität und Mobilität, nicht mehr leidenschaftlich und hoffnungsfroh beklatscht, sondern als Existenzgrundlage angesehen wird.

Heute kennen wir das aus dem prekären Alltag, aber 1996? Begriffe wie Eigenverantwortung, Selbstökonomisierung und Selbstrationalisierung waren noch nicht kontaminiert, es galt als linke Utopie, die Trennung von Arbeit und Freizeit aufzuheben. Das wissen viele heute besser, weil sie dafür bezahlt haben. Damals, 1996, hatte ich „Fin de Millénaire“ überhört. Erst durch „I can’t relax in Deutschland!“ bin ich darauf aufmerksam geworden. „I can’t relax in Deutschland“ ist die passende Antwort auf Roman Herzogs Forderung nach einem unverkrampften Umgang mit der Nation und ihrer Geschichte: Unrelaxt ist besser! Es ist ein Update von Heines Kalenderweisheit „Denk ich an Deutschland in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf gebracht“. Und es ist ein weiterer Versuch der verbliebenen Poplinken, sich in den politischen Diskurs zu mischen: „I can’t relax in Deutschland will die Erkenntnis transportieren, dass es um etwas Besseres geht als die Nation“, heißt es im Buch zum Album. Es geht gegen den neuen deutschen Pop-Nationalismus, den Acts wie Heppner & Van Dyk oder Mia repräsentieren, Protagonisten der Neuen Unverkrampften Deutschen Welle.

Was mich interessierte: Wie funktioniert „I can’t relax in Deutschland!“ auf der Bühne in Frankfurt? Wie läuft die Diskussion „I can’t relax in Deutschland!“ an einem Samstag zur „Sportschau“-Zeit? Eintritt frei, erst die Bands später kosten Geld. Der Mousonturm, eine Kulturfabrik in der baulichen Hülle einer ehemaligen Seifenfabrik, also auf ewig mit dem Odeur erbaulicher Volkshochschulkultur gestraft, ist gut gefüllt. Mit Studierenden überwiegend deutscher Herkunft. „Könnten alle unsere Kinder sein“, denke ich, und das bleibt die Erkenntnis des Abends. Unsere Kinder repetieren Rituale von Versammlungen, die wir Teach-in nannten. Sie kritisieren viel zu viele Ismen beim unterhaltsamsten Referenten des Abends und loben den Vertreter von Sinistra für seine von keiner performativen Raffinesse getrübten Bemühungen um eine gradlinige marxistische Ableitung des Nationalismus. Genau das Zähe, Spröde, Anstrengende, Popferne sei es, was man in dieser Lage braucht! Nun, es war zähes, sprödes, anstrengendes, pop-fernes Preaching to the Converted. Nichtkonvertierte waren nicht erschienen.

In einer Stadt wie Frankfurt, mit ihrer angeblich linken Tradition, hätten wir – noch in den Fünfzigern geborene, noch zu Spontizeiten politisierte Irgendwielinke – unseresgleichen an diesem Abend zwei Kilometer südlich getroffen. Bei der Einweihungsfeier des Neuen Literaturhauses. Aufregung über neue Nationalismen im Pop ist den hier feiernden (Ex-)Linken so fremd, wie ihnen die Bandnamen Heppner & Van Dyk oder Mia fremd sind. An Orten wie diesem – es gibt sie in jeder größeren deutschen Stadt – herrscht eine gewisse Gegenwartsmüdigkeit, die sich zu Gegenwartsverleugnung auswächst, sobald die Gegenwart Fragen aufwirft wie: Was ist heute links? Was ist nationaler Pop? Vermutlich verhalten sich die linken Fraktionen „Can’t relax“ und „Literaturhaus“ heute Abend komplementär: „Can’t relax“ geht gar nicht davon aus, eine andere als die studentisch konvertierte Linke zu erreichen; die erschlaffte Linke würde sich nie zu einer Veranstaltung wie „Can’t relax“ verirren.

Zwischen diesen Szenen gibt es keine Schnittmengen mehr, Diskurs findet nicht statt. Wenn es im Literaturhaus um Pop geht, dann wird geschmunzelt über das Abschiedsbonmot des Außenministers, den hier alle beim Vornamen nennen: „Ich war der letzte Live-Rock-’n’-Roller, nach mir kommt die Generation Playback.“ Das hätte Lindenberg nicht platter sagen können, und es kommt an bei der erschlafften Linken. Interessant, dass Fischer „Playback“ sagt und nicht etwa, wie es korrekt gewesen wäre, Sampling oder Techno. Nein, das alte Playback triggert was an bei seiner Klientel. Für die ist das Literaturhaus der Hörsaal 6 der Wechseljahre. Sie kaufen sich zwei, drei CDs pro Jahr. Die neue Tom Waits, den Soundtrack des neuen Jarmusch-Films oder gerade die neue von der Band von dem Typen, der das Buch von Herrn Lehmann geschrieben hat, wie heißen sie noch gleich? Aufregung über nationale Symbole im Pop käme ihnen pubertär vor, wenn sie denn davon wüssten.

„Quiet is the new loud“ war vor Jahren der Slogan einer Bewegung von Musikern, die in der Besinnung auf leise Töne und Gesten jene Radikalität des Ausdrucks wiederzufinden glaubten, die in den Gründerjahren des Rock allem Lauten vorbehalten war. Jetzt, da das Laute zur hohlen Geste verkommen ist, sei eben Quiet das neue Loud. Ein ähnliches rhetorisches Muster grassiert auf der politischen Ebene: Rechts ist das neue Links. Mit der ebenso großen wie gratis mutigen Geste des Tabubruchs verkünden semiprominente Kulturbetriebsnudeln, dass sie gerade zum ersten Mal CDU gewählt haben. Als hätten sie gerade zum ersten Mal Sex mit dem eigenen Geschlecht gehabt! Oder sie arbeiten am Nachweis, dass unbedingt FDP wählen muss, wer Pop in all seiner Glory geliebt hat.

Nun müsste man solche Schnapsideen nicht weiter ernst nehmen, wenn nicht immer mehr Leute davon besoffen würden. Und darüber nicht die Unterschiede zwischen rechts und links immer mehr verwischt würden. Wenn ein Merve-Autor wie Thomas Kapielski in Querdenkerpose verkündet, er habe Merkel gewählt, „weil die CDU besser ist für die Erziehung meiner Kinder“, dann tut er zunächst mal nichts anderes als der Besitzer des FC Chelsea. Der russische Milliardär Roman Abramowitsch schickt seine Kinder in England zur Schule, denn: „Hier bekommen sie die beste Erziehung der Welt.“ Beide Väter handeln im Klasseninteresse, das sich mit Alter und Einkommen wandelt. Sie setzen politisch um, was viele Eltern aus grünen Milieus der erschlafften Linken im Privaten tun: ihre Kinder auf bessere Schulen schicken, als im eigenen Kiez zu haben sind.

Mit links oder Pop hat solche Interessenspolitik genauso wenig zu tun wie das streberhafte Delirieren des Ulf Poschardt. Der Merve-Autor propagiert einen neofeudalen Kommunitarismus, in dem es nur so wimmelt von mutigen Eliten, gütigen Patriarchen, engagierten Ministerpräsidentengattinnen und großzügigen Mäzenen. Wer etwa die Flick-Collection kritisiert, der macht sich – wie geschmacklos! – mit Autonomen gemein. Poschardts Bewerbungsschreiben für ein Kulturpöstchen bei Merkel verbinden den vornehmen Pluralis Majestatis mit dem dröhnenden „Du bist Deutschland“-Sound: „Deutschland braucht Wachstum“, heißt es apodiktisch, oder: „Deutschland könnte das modernste Land werden“ (taz vom 30. 9.).

Mark Terkessidis hat dieses Gesprächsangebot mit guten Argumenten zurückgewiesen (taz vom 8./9. 10.). Dem ist nur hinzuzufügen: Wer ist wir? Oder: Distanz bitte! Das von Poschardt beschworene Wir ist eine Schimäre wie die viel zitierte Mehrheit links der CDU. Schon die „I can’t relax“-Linke bildet kein Wir mit der erschlafften Literaturhaus-Linken. Und was verbindet Otto Schily mit den Goldenen Zitronen? Wolfgang Clement mit René Pollesch? Eine logische Gegnerschaft, ja. Aber nicht einmal wechselseitige Antipathie. Dafür müssten Schily und Clement die Hamburger Band und den nomadischen Theatermacher wenigstens kennen. Nein, links der CDU ist zu wenig Harmonie für Hegemonie. Die Linke sollte jedes falsche Wir von sich weisen und – mal wieder – die Differenz betonen. Das unterscheidet links von rechts, auch wenn es auf die Dauer langweilt, immer nur nein zu sagen.

Wohin es führt, wenn man endlich auch mal ja sagen und mitmachen darf, das hat die erschlaffte Linke in Gestalt der Grünen in den vergangenen sieben Jahren unter Beweis gestellt. Zu den minderschweren Schweinereien dieser Ära gehört die posthume Vereinnahmung von Ton, Steine, Scherben für grüne Zwecke. Das Dilemma der deutschen Band, auf die sich alle gern einigen wollen, hat Ted Gaier von den Goldenen Zitronen neulich in der Jungle World so weit blickend auf den Punkt gebracht wie 1996 den Umschlag revolutionärer Ideen in Grundlagen eines neuen Kapitalismus: „Ton Steine Scherbens bewundernswerte Konsequenz und Hingabe stellten sie so lange außerhalb des gewöhnlichen Rockkontextes, wie sie im Namen und als Medium für ein größeres ‚Wir‘ sprachen. Seitdem dieses ‚Wir‘ zusammengebrochen ist, ist die treibende Kraft politisch motivierter Popmusik nicht mehr Utopiesehnsucht, sondern Negation – Ablehnung oder Hass auf das Bestehende. Szenarien von einer besseren Welt vertonen diejenigen, die es sich leisten können. Bono Vox oder Sting oder was weiß ich wer.“