Tumult und Klagegesänge

Musik Zwischen Wüstenblues, Futurismus-Lärm und serbischem Liedgut: In Berlin ging das Festival „Krieg singen“ am Haus der Kulturen der Welt zu Ende

Wenn ein ganzer Saal die gleiche Handbewegung vollzieht, ist Vorsicht angebracht. Obwohl! Im Falle des malischen Wüstenrockquartetts Songhoy Blues ist absichtsvolle Vereinzelung ein rapide scheiterndes Unterfangen. Die 2012 in Bamako gegründete Band spielte am Sonnabend auf dem bereits besprochenen „Krieg singen“-Festival; ihr Auftritt setzte einen Kontrapunkt zu der dem Thema geschuldeten konzeptionellen Strenge der Veranstaltungsreihe.

Songhoy Blues rissen das Publikum aus den Stühlen. Einmal in der Vertikalen, warfen die Leute ihre Hände in die Höhe beziehungsweise machten es dem Sänger nach: Hüftschwung und Arme nach links, dann nach rechts. Und wieder von vorn. Kein Wunder bei der energetischen Musik – sie geriet noch grandioser, wenn der Sänger auch zur Stromgitarre griff und sich mit dem Gitarristen einen Geschwindigkeitswettbewerb lieferte.

Man sollte nicht in die Falle tappen, in Songhoy Blues eine schwarze Amüsiercombo zu hören. Ihr spürbarer Enthusiasmus ist ein Trotzdem – der Gitarrist Garba Touré musste 2012 seine Heimatstadt Diré, nahe Timbuktu, verlassen, nachdem islamistische Milizen den Norden Malis übernommen hatten. Am Fluchtort, der südlichen Hauptstadt, entstand die Band, deren Debüt „Music in Exile“ im Februar vergangenen Jahres erschien. Eines ist es wohltuend nicht: Weltmusikkitsch.

Der abschließende Festivalsonntag gehörte dann wieder dem Experimentellen. Vor drei Jahren konnte man den 100. Geburtstag von Luigi Russolos Schrift „Die Geräuschkunst“ feiern. Deren Programmatik setzte er, der Komponist unter den Futuristen, 1914 mit Filippo Tommaso Marinetti, dem Anstifter des Ganzen, in Mailand konzertant um. Die Aufführung mit mehreren von Russolo angefertigten Geräuschintonatoren, den „Intonarumori“, geriet zum gewalttätigen Tumult.

Der blieb freilich aus, als jetzt die Klangkünstler Der Wexel Wessel Westerveld & Yuri Landman ihre eigenen Versionen von Russolos Instrumenten vorstellten. Dafür sahen mehrere Anwesende keinen weiteren Ausweg, als sich die Ohren zuzuhalten. Aber was gab es da auch nicht zu hören und zu sehen! Zwei Singer-Nähmaschinen und sechs metallene Pendel als Rhythmus- und Strukturgeber, überhaupt vielerlei Blechernes, eine Nagelkiste, alles verdrahtet mit Kontaktmikrofonen, sowie drei große, prominente Metalltrichter. Die kennt man von zeitgenössischen Fotos, die Originalinstrumente sind leider verschollen. Auf der Kehrseite der unbedingten futuristischen Liebe zur Modernität standen Kriegsbegeisterung und am Ende Mussolini, dem sich Russolo übrigens verweigerte.

Den Höhepunkt des durchweg hochkarätigen Festivals setzten das Neue Musik-Ensemble Zeitkratzer und die Sängerinnen Svetlana Spajić und Dragana Tomić sowie der Sänger, Gusle- und Dipla-Spieler Obrad Milić. Die Gusle ist eine traditionelle Geige des Balkans mit einer Rosshaarsaite, bei der Dipla handelt es sich um ein prähistorisches Blasinstrument.

Kristalline Töne

Das Ensemble interpretierte serbische Trauer- und Kriegslieder aus der Zeit des Ersten Weltkriegs, bei der Voraufführung in Belgrad war das Publikum zu Tränen gerührt. Spajić und Tomić sangen in Berlin in solch kristallinen Tönen, dass man ihnen ihre Dissonanz fast nicht mehr anmerkte. Milić wiederum präsentierte eine detaillierte Ballade über das Attentat von Sarajevo. Auf der Gusle spielte er dazu etwas, das man knapp vor der Beschreibungsimpotenz einen balkanischen Blues-Loop nennen könnte.

Zeitkratzer agierten etwas zurückgenommener als in vergangenen Konzerten, stiegen ganz langsam ein und setzten dezente Akzente. Denn Milić, komplett in tradierter Tracht, sagte seinem Instrument: „Meine alte Gusle, du kennst alle Geschichten dieser Welt, wer geboren wurde und wer stirbt; nun stehe mir bei, denn ich muss vom Blutvergießen singen.“

Robert Mießner