Wozu Argumente, wenn man eine Meinung hat?

ROCKKRITIK Grob gedrechselte Hasslatten: Der Band „Ich schrieb mich verrückt“ versammelt journalistische Texte des Universaldilettanten Wolfgang Welt und zeichnet dessen Weg vom Zeilenschmierer zum professionellen Gonzo-Reporter nach

VON FRANK SCHÄFER

Wolfgang Welt hatte das, was jeder Rockjournalist zuverlässig haben muss, wenn er wahrgenommen werden will: 25 Prozent Kennerschaft, 25 Prozent Leidenschaft und mindestens 60 Prozent Scheißhausfliegenfrechheit. Außerdem darf er nicht rechnen können, sonst würde er den Job nämlich nicht machen.

Welt macht ihn auch nur ein paar Jahre, von 1979 bis 1984. Da hatte er sich, angetrieben von Alk, Lexotanil, drei Schachteln Benson & Hedges pro Tag, Schilddrüsenüberfunktion und ständiger Geldnot, aus der Umlaufbahn geschossen und landet in der geschlossenen Anstalt.

Labile Psyche

In „Ich schrieb mich verrückt“, dieser von Martin Willems akribisch zusammengetragenen, chronologisch geordneten Auswahlausgabe von Wolfgang Welts Kritiken, Reportagen, Essays und Storys, kann man nun endlich noch einmal nachlesen, wie sich aus dem aufgekratzten „Marabo“-Zeilenschmierer mit Ambitionen der professionelle Gonzo-Reporter herausmendelt, den seine labile Psyche offenbar nicht lange ausgehalten hat.

Während sich die bundesdeutsche Popkritik mit Diedrich Diederichsen, Peter Glaser et alii zu intellektualisieren beginnt, kultiviert Welt weiterhin einen rücksichtslos subjektivistischen Fan- und Fanzine-Stil im Geiste der Siebziger und dringt damit durch – im Sounds und Musikexpress.

Wozu Argumente, wenn man eine Meinung haben kann? Und genügend Mut, Rücksichtslosigkeit und polemisches Feuer, diese lautstark vorzubringen. Vor allem bei den deutschen Künstlern kennt er kein Erbarmen. Grönemeyer? „Ich wäre froh, wenn diese Scheibe (man könnte das b auch durch ein ß ersetzen), nicht ,Zwo‘, sondern ,Die Letzte‘ hieße. Was sich der vielbeschäftigte Grönemeyer […] hier geleistet hat, ist wie schon bei seinem Debüt vor zwei Jahren unter aller Sau.“

Westernhagen? „Heute zweifellos der populärste deutsche Rocksänger. Leider. Wenn so ein musikalisch armseliges Würstchen große Teile der Jugend hinter sich bringen kann, wirft das ein deutlich erschreckendes Bild auf den Zustand der Rockmusik in der Bundesrepublik und ihrer Zuhörer. […] Seine permanenten Erektionen mögen ja auf manche 16-Jährige einen gewissen Reiz ausüben, ihre dauernde Zurschaustellung erzeugt bei abgeklärten Hörern ein Gähnen.“

Auf Welts vielleicht bekanntesten Text, seine Generalabrechnung mit Heinz Rudolf Kunze, antwortete der Gescholtene mit einem Leserbrief selbst. Darin beschimpft der Rocksänger den Kritiker als „Aufsatz-Ajatollah“, der „Unzucht mit Abwesenden“ treibe. So kann man es natürlich auch sagen. Welt ist ein selbst erklärter „Schreibchaot“ und „Universaldilettant“, der nicht an seinem Stil feilt, sich nicht mit Überarbeitungen aufhält, aber dessen grob gedrechselte Hasslatten eine gewisse Durchschlags- und enorme Anziehungskraft besaßen. „Das hättest du auch schreiben können, wenn du schreiben könntest“, bemerkt er in einer ausnahmsweise einmal lobenden Kritik über den Pottlyriker Werner Streletz.

Ähnlich ging es uns damals bei seinen Texten, und das trotz seiner Monomanie in Sachen Buddy Holly und einer eher verstörenden Schwärmerei für den altdeutschen Schlager à la Willy Hagara. Bald konnte Welt tatsächlich schreiben. Vor allem diese unglaublich lässig aus dem Ärmel geschlenkerten, großartig großkotzigen Merksätze, die einem nicht mehr aus dem Kopf gingen und jetzt beim Wiederlesen eine nostalgische Gänsehaut machen.

Zur damals gerade erfolgreichen Schweizer Metalband Krokus befindet Welt, ihre Songs seien zwar ganz gut, reichten aber nicht „an die Klasse der schlechtesten Nummern von Motörhead heran. Irgendwie fehlt doch zum perfekten Heavy-Metal-Genuss noch ein Quäntchen mehr Lasterhaftes und die Untugend der Selbstironie.“

Noch in die kürzeste Kurzkritik versucht er sich als Individuum einzuschreiben – und vor allem nicht zu langweilen. Man könnte diese Sammlung passionierter, aufrichtiger und dennoch auf Wirkung bedachter „Knüppel aus dem Sack“-Texte als einen plebejischen Gegenentwurf zu Diederichsens „2000 Schallplatten“ lesen. 350 Seiten, die Welt according to Wolfgang Welt. Echte Gefühle! Vor allem aber dokumentiert das Buch die nicht gerade laue Aufwärmphase für seine große autobiografische Erzählung in Einzellieferungen, die mit „Buddy Holly auf der Wilhelmshöhe“, dem hier noch einmal abgedruckten Beitrag zur legendären „Staccato“-Anthologe, ihren Anfang nimmt.

Literarischer Gegenkanon

Diese Collage, eine kollektive, interviewgestützte Erinnerung an das Bochum der Fünfziger mit Suff und Fußball, erstem Sex und frühem Rock ’n’ Roll, ist mehr als eine literarische Talentprobe. Sie ist Welts persönliches Gonzo-Manifest, die Probe aufs Exempel, wie er sich seine Prosa vorstellt, als in statu nascendi mitgetipptes Erinnerungsdelirium. So wollte er nur noch schreiben.

Als er es dann in die Tat umsetzte, konnte der Rockjournalist einpacken, der Erzähler gehörte daraufhin bald zum Gegenkanon der deutschen Literatur.

■ Wolfgang Welt: „Ich schrieb mich verrückt. Texte von Wolfgang Welt 1979–2011“. Hg. von Martin Willems. Klartext Verlag, Essen 2012, 357 Seiten, 19,95 Euro