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Die ganze Welt kann sich hier spiegeln

tanz Mit energiegeladenen Stücken, zwischen HipHop und Ballett, aber auch mit einer zarten Verschiebung queerer Ästhetik überrascht die erste Hälfte der diesjährigen Tanztage in den Sophiensælen

von Astrid Kaminski

Es Rückkehr der Virtuosität zu nennen, wäre tollkühn, so leitete Anna Mülter, Kuratorin der 25. Tanztage Berlin, bei der Pressekonferenz die neue Edition ein. Aber so tollkühn wäre es gar nicht gewesen. Während die letztjährige Ausgabe mit Posen und Markieren begann, mit der Unterstellung, dass Choreografie ein Baukasten für kulturwissenschaftliche Versuchsanordnungen sei, war das diesjährige Nachwuchschoreograf*innen-Festival konkret wie lange nicht mehr am Start.

Allen voran gilt das für Roderick George, der mit den DJs SAD und einer Viererboygroup am Eröffnungsabend einschlägt wie die Neuerfindung des Rads. Vor einem altargleich aufgebauten Mischpult überwältigt er das Publikum mit einem Bewegungsidiom zwischen HipHop und Ballett, zwischen urbaner Schroffheit und affektverliebtem Narzissmus im Nu. Und demonstriert so, dass eine zeitgenössische Tanzsprache nicht unbedingt ein nur in Anführungszeichen tanzbares, abgeklärtes Fragmentepuzzle sein muss. Entschiedenheit und Technik reichen, um eine interessante, schillernde Bewegungsoberfläche zu kreieren, in der sich eine ganze Welt spiegeln kann.

Missverständnis klären

Und damit wird auch mit einem Missverständnis im Tanz aufgeräumt: Nicht konkrete Bewegungsidiome und durchgezählte Choreografien stehen für die Stereotype des Tanzes, sondern vielmehr die ständige Reproduktion der Wirklichkeit als Fragment. „Dust“ heißt das Stück, das energiegeladen jede Menge Staub und abgeworfenen Ballast aufwirbelt.

Aber „Dust“ verweist auch auf eine weitere Entwicklung, und in diesem Sinn steht es wie die allgegenwärtige Rückkehr des Bühnennebels für den Lifestylefaktor in der Tanzwelt. Dass HipHop das neue Ballett sei, das hat der bekannte Ballettdekonstrukteur William Forsythe, bei dem Roderick George getanzt hat, schon vor einigen Jahren verkündet. Spätestens bei Tanz im August 2015, dem größten deutschen Festival für zeitgenössischen Tanz, wurde es offensichtlich. HipHop wird inzwischen ohne jegliche subkulturelle Konnotation als Technik genutzt. Und diese Stilisierung subkultureller Szenen beschleunigt sich. Vor wenigen Jahren hat die afroamerikanische Voguing-Kultur die europäische Tanzszene gestreift, längst ist sie in ihrer Drag-Ästhetik zum Bühnenschick geworden.

Vielleicht bringen Antonio Onio und Bráulio Bandeira, beide Tänzer und Musikproduzent, diese Entwicklung in „Savannah“ auf den Punkt, in dem sie sich in Voguing-Manier durch die aktuellsten Outfits eines bekannten Sportmodenherstellers im Wert von mehreren Tausend Euro schälen. Ganz klar ist das allerdings nicht, vielleicht freuen sie sich auch einfach über großzügiges Sponsoring. Übereindeutig ist dagegen ihre Selbstverortung in queer-schwuler Ästhetik, dazu hätte es den Analtropf gegen Ende des Stückes kaum gebraucht. Dasist weniger eine Frage des subtilen Geschmacks als eine der Mittel.

Philosophie von Queerness

In einem Trio von Ania Nowak überrascht die intime lesbische Stimmung

Interessanterweise dominiert, aufbauend auf den großen feministischen Diskursen zur Philosophie von Queerness, im Tanz vor allem eine schwule Ästhetik – trotz der vielbeachteten Arbeiten etwa von Antonia Baehr, Antonija Livingstone oder Meg Stuart. Das könnte – gewagte These – mit dem eher maskulinen Tonus dieser Arbeiten zu tun haben. Bei den Tanztagen überrascht dagegen die intime lesbische Stimmung, der sich ein Trio rund um Ania Nowak widmet. In ungekünstelter Zärtlichkeit und mit so herbem wie intelligentem Humor versuchen die drei herauszubekommen, ob Liebe „affect, sensation“ oder „activity“ ist, ob sie passiert oder bewusst erzeugt wird.

Beim darauffolgenden, ebenfalls starken Trio rund um Kareth Schaffer geht es dann derber zu. Indem sie sich an der Schwierigkeit eines Narrativs im Tanz abarbeitet, wird tüchtig auf die Liebe in Form eines großen Pappmachéherzens eingedroschen. Wie viel eindeutige Symbolsprache braucht der Tanz, um Inhalte zu vermitteln? Bei Schaffer jede Menge. Um die Theatralität von Beziehungsdramen geht es und wohl auch darum, wie anachronistisch sie in einer lifestylegeschönten Welt anmuten.

Insgesamt bislang ein starker Jahrgang, bei dem sich einzig mehr denn je die Frage stellt, ob das Label Tanztage Berlin noch passt. Etwa die Hälfte der eingeladenen Choreograf*innen – darunter auch die begabte Olivia Hyunsin Kim, die in Hawai, Falmouth und Gießen studiert hat – erfuhr seine Prägung anderswo. Der Stempel Berlin ist da fast schon eine Vereinnahmung.

Die Tanztage dauern bis17. Januar in den Sophiensælen

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