Alle dürfen mitentscheiden

Experimentelle Musik Was passiert, wenn man Musik sozialisiert und demokratisiert? Das viertägige Festival Klub Katarakt stellt dieses Jahr unter anderem den US-amerikanischen Komponisten Christian Wolff vor

Viel Raum für einen unverkopften Umgang mit experimenteller Musik: Matthias Kauls „Wheeled“ war vergangenes Jahr beim Klub Katarakt zu hören   Foto: Christina Hansen

von Robert Matthies

Es ist ein anderer Begriff des Neuen in der Musik, den der US-amerikanische Komponist Christian Wolff Anfang der 1970er-Jahre forderte: Die Neue Musik, sagte er 1974 in einem Vortrag bei den Darmstädter Internationalen Ferienkursen, „sollte (...) eigentlich eine Musik sein, die sich für eine neue Gesellschaft eignet. Darin würde ihre Neuheit liegen, und mit ‚neu‘ meine ich etwas, das durchaus sozialisiert und demokratisiert ist.“

Ausdrücklich politisch aufgeladen hat Wolff damit eine kompositorische Praxis, die der New Yorker – als Sohn des ersten Kafka-Verlegers Kurt Wolff auf der Flucht vor den Nazis 1934 in Nizza geboren – bereits 1954 zu entwickeln begonnen hat. Damals hatte Wolff – der jüngste und heute letzte lebende Vertreter der New York School um John Cage, Earle Brown, Morton Feldman und David Tudor – gemeinsam mit Frederic Rzewski aus Zeitmangel seine erste indeterminierte Komposition geschrieben: ein offenes Werk, das Entscheidungen in die Hände der Ausführenden legt und von ihnen eine improvisatorische Praxis verlangt.

„Burdocks“ – benannt nach den sich unkontrolliert ausbreitenden Kletten von Pflanzen – heißt das 1970/71 entstandene Werk, in dem die in den Jahren zuvor entwickelten Techniken kulminieren: keine durchkomponierte Partitur, sondern eine Sammlung ganz unterschiedlicher Teile, die als Ausgangspunkt für eine Ensemble-Performance dienen. Ein orchestrales Werk, aber nicht symphonisch: geschrieben für eine offene Gruppe von Musikern, die sich nicht in einer vorgeschriebenen Zusammenstellung einer Autorität unterwerfen. Das gemeinsame Treffen von Entscheidungen wird zum konstitutiven Element der Komposition.

Geschrieben hat Wolff „Burdocks“ für das 1969 gegründete experimentelle Ensemble Scratch Orchestra – das er bis dahin noch gar nicht gehört hatte. Ein Stück, ausdrücklich geschrieben für eine Gemeinschaft aus Profis, Amateuren und Nicht-Musikern, verbunden in einem „populistisch-anarchistischen Geist“, wie Wolff es mal ausdrückte.

Ins Zentrum rückt „Burdocks“ die vollkommene Abhängigkeit von den anderen: Ein Musiker entscheidet sich zum Beispiel für einen bestimmten Klang, spielt ihn aber erst nach den nächsten fünf Klängen, die er von anderen hört. So erklärt Jan Feddersen das Zusammenspiel aus gegenseitigem Zuhören, Aufmerksamkeit und Geduld, das „Burdocks“ verlangt. Es sei experimentelle Musik im besten Sinne – „man hat keine Ahnung, wie es klingen wird“, sagt Feddersen.

Feddersen ist, gemeinsam mit Robert Engelbrecht und Ernst Bechert, künstlerischer Leiter des Festivals Klub Katarakt, das diese Woche zum elften Mal auf Kampnagel läuft. Vier Tage lang werden in drei Hallen experimentelle Musik, Klanginstallationen, Videokunst und multimediale Projekte zu hören und zu sehen sein. Eröffnet wird das Festival am Mittwoch mit einem Abend, der Christian Wolff als diesjährigem Composer in Residence gewidmet ist.

Das Treffen von Entscheidungen wird bei Wolff zum konstitutiven Element der Komposition

Zu hören ist dort, mit Wolff am Klavier, nicht nur eine Version von „Burdocks“, sondern auch die Uraufführung des als Auftragswerk für das Festival entstandenen Stücks „Where“, außerdem Wolffs „Keyboard Miscellany“ und „Incidental Music“. Auch am Freitag ist Wolff zu hören: Neben Werken von John Cage, Morton Feldman, Karlheinz Stockhausen und Galina Ustwolskaja spielt die Pianistin Sabine Liebner zwei Stücke aus dessen Tilbury-Stücken.

Die für Wolff zentrale „anarchististisch-populistische“ Interaktion ist dieses Jahr auch an den anderen Festivaltagen so etwas wie ein nicht ausgesprochenes Motto. Am Donnerstag etwa wird der Hamburger Komponist Sascha Lino Lemke in einem Porträt vorgestellt. Lemke arbeitet sowohl mit Instrumenten als auch mit Elektronik sowie mit deren Interaktion.

Und das tut er durchaus mit Humor: So entsteht ein poetisches Spiel mit dem Erinnerungsvermögen sowohl der Zuhörer als auch des Computers. Mit Kameras erstellt Lemke „Doubles“ der Musiker, die ganz plötzlich ein Eigenleben zu entwickeln scheinen. Auch das ein Entwurf einer zukünftiger Demokratie: die Maschinen dürfen dabei sein.

Mi, 13. 1. bis Sa, 16. 1., Kampnagel, www.klubkatarakt.net