: Fußnoten zu Texten, die nie geschrieben wurden
VON HELMUT HÖGE
[1]Der „Schwarze Schwan“ ist seit dem gleichnamigen Buch des Finanzmathematikers Nassim Taleb nicht nur eine Metapher für unvorhersehbare Ereignisse wie „Nine Eleven“, „Finanzkrise“ oder „Arabischer Aufstand“, sondern auch – zusammen mit weißen Schwänen – ein Symbol für lebenslange eheliche Treue.
Forscher an der Universität von Melbourne in Australien, wo die schwarzen Schwäne herkommen, haben jetzt jedoch festgestellt, dass sich eins von zwanzig Paaren nach einiger Zeit wieder trennt. Unabhängig davon ist ihr Hang zur Untreue groß (etwa 15 Prozent aller jungen Schwäne werden unehelich geboren). Wenn eines der Elterntiere stirbt, sucht sich das andere nach etwa einem Monat einen neuen Partner.
Seltsamerweise korrelieren diese Ergebnisse der Schwanforschung mit den entsprechenden Daten der Bevölkerungsstatistik des Bundesstaates Victoria, in dem Melbourne liegt – wo auch die meisten schwarzen Schwäne, die von den Zoologen untersucht wurden, leben.
[2]Bei der Debatte um die „Klimaerwärmung“, die im Kulturkaufhaus Dussmann bereits ein ganzes karelisches Holzregal füllt, wird oft vergessen, dass die „Klimaerwärmungs-Gegner“ genannten Rechtskonservativen, die von der (grünen) „Klimaerwärmungs-Lüge“ sprechen, stets zugleich geharnischte Antiislamisten sind. Es muss da also eine Verbindung geben.
[3]Ist aber nicht der neue Ecocitizen recht besehen ein alter Ackerbürger? Im kleinen Oderhafen Gartz – zwischen Schwedt und Stettin inmitten des Nationalparks Unteres Odertal – gibt es noch eine zum Teil erhaltene Stadtmauer mit einem Tor: Dort im Torwärterhaus hat man 1990 ein Ackerbürger-Museum eingerichtet. Die Gartzer waren jahrhundertelang Ackerbürger, Ökobürger, die nicht vom Handel oder Handwerk leben konnten, denen aber auch der Garten hinterm Haus nicht genug zum Leben abwarf, weswegen sie noch einige Äcker und Weiden samt Scheunen und Ställe außerhalb der Stadtmauern unterhielten.
Ähnlich war es bei den Ostfriesen: Um etwa Bürger von Emden zu werden, musste man ein paar Ziegen besitzen, notfalls auf Kredit angeschafft, die dann auf dem eingedeichten Land vor der Stadt gehütet wurden. Dazu musste man sich an Deichwartungsarbeiten beteiligen.
[4]Seit der Neoliberalismus in fortlaufenden Krisen zerstäubt, sind nicht nur die „Allmende“ („Commons“), die „Genossenschaft“, das „Kollektiv“ (als Selbsthilfen von unten) schwer angesagt. Sondern – dies propagandistisch begleitend – auch die Solidaritäts- und Mitgefühlsforschung auf Drittmittelbasis. Vom Amazonasindianer über indische Slumbewohner und Siliconvalley-Nerds bis hin zu Affen-, Elefanten- und Fledermauspopulationen – alle und alles wird nun neben der Intelligenz auf seine oder ihre „Empathiefähigkeit“ getestet.
[5]Der 1991 gestorbene Weddinger Klavierstimmer Oskar Huth war uns ein Vorbild. Im Merve Verlag erschien zuletzt sein „Überlebenslauf“ – aufgezeichnet von einem Malerfreund. Oskar Huth war vor dem Krieg pro forma als Zeichner im Botanischen Garten angestellt, 1941 tauchte er mit falschen Papieren unter. Am Breitenbachplatz betrieb er dann im Keller eine Druckwerkstatt, in der er Pässe und Lebensmittelkarten herstellte. Damit ermöglichte er fast sechzig Menschen, überwiegend Juden, die sich in Berlin versteckt hatten, das Überleben: „Alles hing natürlich an einem seidenen Faden … Wer wirklich Leute versteckte, das waren die Proletarier untereinander. Die Ärmsten halfen den Armen. Und die Leute, die wirklich Möglichkeiten hatten – da war nichts, gar nichts.“
Tagtäglich war Oskar Huth zu Fuß unterwegs auf Buttertour zu den Versteckten, er selbst spricht von seinem „monsterhaften Latsch durch die Stadt“ – zeitweilig auch bewaffnet. Einen besonders „widerwärtigen Nazi und Einpeitscher“ brachte er sogar um. Die Amis bescheinigten ihm später, „Anti-Nazi-Activist“ gewesen zu sein. 1989 meinte Oskar Huth im russischen Café Hegel am Savignyplatz: „Aber der Spielraum, aus sich was anderes zu machen, als einem prädestiniert ist, der ist ein lächerlich geringer.“
[6]Wenn von „Bewegungen“ die Rede ist, denkt man meistens an solche, die groß von sich reden machen, nicht selten mit einem eigenen „Pressesprecher“. Es gibt jedoch auch unsichtbare Bewegungen. Ihnen ist der iranische Soziologe Asef Bayat im Orient auf der Spur. Er spricht dabei von einer „Nonmovement“-Bewegung“, die „in Ländern mit despotischen Regimen die vorherrschende Möglichkeit ist, gesellschaftliche Veränderungen zu erreichen“. Das gilt zuvörderst für Frauen, Jugendliche, Gelegenheitsarbeiter und Arbeitslose, die sich für ihren subtilen Widerstand, um mehr ökonomischen Spielraum zu gewinnen, „passiver Netzwerke“ bedienen.
Vor ihm hatte bereits der Soziologe Michel de Certeau den „vereinzelten Konsumenten“ als Partisan des Alltagslebens in den Blick genommen. Ayats Partisanen sind eher Produzenten, zudem nicht vereinzelt. Neben dem Dringlichsten, das in „individueller direkter Aktion“ erledigt wird, haben die arabischen Unterschichten laut Ayat das Ziel, „Autonomie zu erlangen – kulturell und politisch ein informelles Leben zu führen“.
Auf einer Konferenz in Stuttgart ging es jüngst um das Gegenteil: die hiesige „Ökonomisierung aller Lebensbereiche“, um das „quantified self“ von Mann und Frau, wobei von „Selbstoptimierung“, „permanentem Self-Ranking“ und „Genussbilanz“ die Rede war.
Für die sozialen Bewegungen könnte das hier heißen, dass sie in der postindustriellen Medien- und Informationsgesellschaft, da die Entwicklung von Software und letztlich Algorithmen eine immer größere „Fertigungstiefe“ erreicht, gut beraten wären, wenn sie erst einmal die Medien wie die Pest meiden würden, um in Ruhe das Soziale – als harten Kern des Widerstands – zu entwickeln.
Helmut Höge, 65, ist taz-Autor und Aushilfshausmeister. Seinen ersten Text für die taz schrieb er 1980. Die zu diesen Fußnoten gehörenden Texte will er noch schreiben.