: Steuern rauf, schnell
Über Jahre wurden die Steuern ohne Rücksicht auf die Handlungsfähigkeit des Staates gesenkt. Die trügerische Hoffnung: Nur so werde der flauen Konjunktur aufgeholfen
Jetzt soll also bei den öffentlichen Haushalten gespart werden. „Eisern“ und „drastisch“ sind dabei die meistbenutzten Wörter. Der brutalstmögliche hessische Ministerpräsident sieht beim Ergebnis „kollektives Heulen und Zähneknirschen“ voraus. Suggeriert wird dadurch, wir hätten lange über unsere Verhältnisse gelebt und müssten jetzt dank willensstarker Politiker auf die harte Tour lernen, was Sache ist.
Dabei leben wir unter unseren Verhältnissen. Vor wenigen Tagen ist die neueste Ausgabe des jährlichen OECD-Berichts „Revenue Statistics“ mit den Zahlen für 2003 erschienen (die taz berichtete). Das Ergebnis: Entgegen der üblichen Meinung ist Deutschland seit Jahren ein Niedrigabgabenland. Allerdings mit einer sehr ungünstigen Steuerstruktur. Um unsere kollektiven Aufgaben zu erfüllen, brauchen wir also erheblich mehr Einnahmen, die sich aus einem vernünftigeren Mix zusammensetzen müssen.
Wie hoch ist der Abstand zu anderen Ländern?
Als mit der Bundesrepublik vergleichbar lässt sich am besten die Europäische Union definieren. Die Statistik unterscheidet hier die EU 15, den Kernbereich der bisherigen Mitglieder, und die EU 19, wo noch die Zahlen für die neuen, etwas größeren östlichen Länder Polen, Tschechien, Ungarn und die Slowakei integriert sind. Vom gemeinsamen Entwicklungsstand her ist die EU 15 der am besten geeignete Referenzrahmen.
Im Jahr 2003 nahm Deutschland aus Steuern und Sozialabgaben insgesamt 35,5 Prozent des Bruttoinlandsprodukts (BIP), der gesamten jährlichen Wirtschaftsleistung Deutschlands, ein. In der EU 15 waren es dagegen 40,5 Prozent und unter Einschluss der Beitrittsländer immer noch 39,4 Prozent. Die Differenz von 4 bis 5 Prozent lässt sich auch in harte Euros umrechnen: 80 bis 100 Milliarden Euro kosten den Bundeshaushalt die niedrigen Steuersätze. Geld, das fehlt für öffentliche Aufgaben wie Bildung und Sachinvestitionen, für eine aktive Arbeitsmarktpolitik, für eine bessere soziale Absicherung.
Hinzu kommen die Kosten der deutschen Wiedervereinigung. Sie ist mit weiteren mindestens 4 Prozent des Bruttoinlandsproduktes anzusetzen. Das macht noch mal zusätzlich fehlende 80 Milliarden Euro.
Die Wiedervereinigung von 1990 ist mit ihrem lang andauernden, hohen Transferbedarf sowohl wegen der Größe der Aufgabe wie der Plötzlichkeit des Eintretens ein Sonderfall – vergleichbar mit der Situation nach einem Krieg oder einem Jahrhunderthurrikan, wie er über New Orleans hereinbrach. Eine solche Herausforderung sollte über den Solidarpakt hinaus von der Allgemeinheit als unabdingbare Solidaraufgabe begriffen werden, und das heißt, sie auf lange Zeit durch extra Steuern oder Abgaben zu finanzieren. Der „Soli“ als dafür eingeführter Aufschlag auf die Einkommensteuer erbringt aber nur etwa 10 Milliarden Euro.
Woher genau kommt das Einnahmedefizit Deutschlands gegenüber dem Durchschnitt der Europäischen Union?
Dafür sind drei Besonderheiten verantwortlich: zu niedrige Einkommensteuern, zu niedrige Vermögensteuern, zu niedrige Verbrauchsteuern. Nur in einer Kategorie liegt Deutschland vorne. Ausgerechnet bei den den Arbeitsmarkt belastenden Sozialabgaben haben wir eine weit überdurchschnittliche Position. Hier stehen 14,4 Prozent gegen 11,6 Prozent in den EU 15- Staaten.
Auch wenn es kein Allheilmittel gegen die Arbeitslosigkeit ist, eine Senkung der Abgaben auf den Faktor Arbeit ließe sich prima mit einer 2-prozentigen Erhöhung der Mehrwertsteuer finanzieren. An solchen Verbrauchsteuern nehmen wir zurzeit nur 10,4 Prozent des BIP ein, die anderen europäischen Kernländer dagegen 12,2 Prozent. Damit würde der Kardinalfehler der Kohl-Regierung revidiert, die Hauptlast der Wiedervereinigung nicht aus dem allgemeinen Steuertopf, sondern über die Sozialversicherungen zu finanzieren, also einseitig den Arbeitnehmern aufzubürden.
Die SPD sollte sich nicht allzu lange gegen eine Mehrwertsteuererhöhung sträuben, für die es gute Gründe gibt. Sie sollte aber als Gegenleistung für eine Zustimmung fordern, dass Steuererhöhungen kein Tabu sein dürfen. Eine Umschichtung von Sozialabgaben zu indirekten Steuern ist eben nur eine Umschichtung und bedeutet noch keinen Cent mehr in den darbenden öffentlichen Kassen.
Zu gering sind auch die Einnahmen aus Vermögensteuern. Die haben in Deutschland über die Grundsteuern noch einen Anteil am BIP von 0,8 Prozent. In der EU 15 sind es 2,1 Prozent. Es besteht kein Anlass, unter die Standards anderer EU-Länder zu fallen. Die Wiedereinführung der klassischen, jahrzehntelang weitgehend problemlos erhobenen Vermögensteuer kann nur in einer großen Koalition gelingen, und das heißt: jetzt.
Noch viel gravierender ist die Differenz bei den Einkommensteuern: nur 9,7 Prozent Einnahmen als Relation zum BIP versus 13,7 Prozent in Kerneuropa. Und diese 4 Prozent Differenz teilen sich ziemlich genau zur Hälfte auf die persönlichen Einkommen und auf die Gewinnbesteuerung von Kapitalgesellschaften auf. In beiden Feldern waren die Eichel’schen Steuerreformen für die staatlichen Einnahmen desaströs (wie übrigens auch vorher schon die von Waigel). Teure Steuergeschenke wie die berühmte Eigenheimzulage, vielleicht sogar das Ehegattensplitting jetzt abzuschaffen, wäre wenigstens ein Einstieg in das Ende der Begünstigung ausgewählter Privathaushalte.
An Gewinnsteuern für Kapitalgesellschaften nehmen wir aktuell noch 1,3 Prozent unseres BIP ein, die EU 15 dagegen ordentliche 3,2 Prozent. Nichts ist es also mit dem immer wieder versprochenen neuen Aufschwung dieser Einnahmeposition durch die diversen Korrekturen an den misslungenen Gesetzen. Der Exportweltmeister Deutschland hat es wieder einmal geschafft, unter den 29 ausgezählten OECD-Ländern den untersten Platz einzunehmen und dabei selbst das um diesen Platz mitkonkurrierende winzige Island erneut zu unterbieten.
Die SPD fühlt sich zurzeit noch verpflichtet, weiter für eine Senkung der Unternehmensteuer einzutreten, wie Schröder und Merkel auf dem Jobgipfel Anfang des Jahres vereinbart haben. Dafür gibt es keinen Grund. Im Gegenteil: Wir müssen die Steuerzahlungen der Kapitalgesellschaften strukturell erhöhen.
Liegt der Grund für die miese Einnahmebilanz nicht vielleicht doch darin, dass der Sektor der Kapitalgesellschaften in Deutschland so klein ist oder deren Gewinne so niedrig sind?
Eindeutig: nein. Mit Hilfe anderer OECD-Publikationen lässt sich nachweisen, wie gering der faktische Gewinnsteuersatz dieser Unternehmen in Deutschland ist. In keinem europäischen Land ist er so niedrig wie hier. In Frankreich, Italien und Großbritannien ist er so gut wie doppelt so hoch. Das sollte auch unsere Zielmarke sein – für mehr Bildung und Sachinvestitionen, für eine aktive Arbeitsmarktpolitik, für eine bessere soziale Absicherung. GERD GRÖZINGER