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Angst und Vernunft

theater Herbert Fritsch liefert am Wiener Burgtheater einen sensationellen Molière

Molière machte aus seiner eigenen Hypochondrie ein heuristisches Instrument, das vernunftgemäßes Erkennen vorbereitet

Spricht man mit Privatpatienten über ihre Arztrechnungen, ist der Abend gelaufen. Gut und teuer sind auch all die Schröpfkuren, Aderlasse und Klistiere, die Argan (Joachim Meyerhoff), dem Furzklemmer, Stoffwechsel und Ausscheidungen regulieren sollen. Was auch immer er herausschwitzt oder sonst von sich gibt, nichts verschafft ihm Linderung. In diesem spindeldürren Körper tobt ein Krieg. Nur von einem schäbigen weißen Korsett zusammengehalten, windet er sich und bäumt sich immer wieder gegen die Schwerkraft auf, als wär’s das letzte Mal. Die vom Schreck geweiteten Augen in ihren dunklen Höhlen haben den Tod gesehen. Er sah aus wie er selbst.

„Der eingebildete Kranke“ leidet schwer und an nichts – außer am Zwang zur Selbsterhaltung, zum Plusmachen, an Geiz, Gier und Triebverzicht, am Anständigseinmüssen. Jede Zelle rebelliert gegen diese zweite Natur bis kurz vor dem Multiorganversagen. Bourgeoisie ist nicht heilbar. Aber der Regisseur Herbert Fritsch praktiziert am Wiener Burgtheater eine wunderbare Kur, die das Theater beflügelt und seine Selbstheilungskräfte freisetzt. Hierzu fährt ihm Dr. Fritsch erst einmal gehörig in die Eingeweide.

Joachim Meyerhoffs Argan kriecht als falsche, an der schlechten Wirklichkeit hässlich gewordene Venus aus der Muschel des Souffleurkastens und landet in einem weißen Gedankenraum, befreit vom Schmutz der Außenweltnachahmung. Zwei, drei ebenso weiße Gassen wiederholen die Form des Portals nach hinten wie Ringmuskeln des Verdauungskanals. Darauf projiziert sind die zarten Linien zweier Röntgenbilder, hinten der Bereich oberhalb der Beckenknochen, oben das Panorama eines Unterkiefers. Einzig drei historisch korrekte wie ferngesteuerte Cembali geben das Tempo des Abends, das Fritsch-Presto, unaufhaltsam vor.

Es kann losgehen. Wir schreiben das Jahr 1673. Das Theater hat die Psychologie noch nicht entdeckt, die Medizin hat den Blutkreislauf noch nicht ganz begriffen. Für das Theater erweist sich dieser Erkenntnisstand einmal mehr als Glücksfall. Im Heilwesen war er schon damals verheerend. Mit Mumpitz auf Latein dokterte man an Temperamenten und Körpersäften herum. Der Sonnenkönig Ludwig XIV. stank und eiterte abscheulich aus dem Mund, nachdem ihm Zahnreißer den Kiefer verpfuscht hatten. Herr Jean-Baptiste Poquelin, genannt Mo­lière, der die Rolle des eingebildeten Kranken spielte und in ihr starb, machte aus seiner eigenen Hypochondrie bei gleichzeitiger Ärztephobie ein heuristisches Instrument, das vernunftgemäßes Erkennen vorbereitet.

Es geht um evidenzbasiertes Handeln. Und Evidenz kann hier nur mit einer ziemlich ruppigen Intrige geschaffen werden. Sein Dienstmädchen Toinette (Markus Meyer) bringt Argan dazu, die Behandlung zu verweigern, ohne sogleich tot umzufallen. Tot stellt er sich dagegen, um die wahren Motive seiner Mitmenschen zu erfahren. Am Ende ist er so gebeutelt wie geheilt und seine schöne Tochter Angelique (Marie-Luise Stockinger) endlich befugt zur Erkundung reifer Genitalität mit ihrem Cléanthe (Laurence Rupp). Selten kam der Optimismus früher Aufklärung in so finsterem Gewand daher.

Die Kostümbildnerin Victoria Behr setzt den gleichsam aus alten Stichen entnommenen Silhouetten mit all ihren Rüschen, Perücken und sonstigen Flohfallen zur giftigen Mischung schrille, monochrome Akzente auf. Fritsch nimmt ausgerechnet die ausgestorbene Genrebezeichnung „Ballettkomödie“ als Antriebsmoment seiner Arbeit. Molière erlaubt ihm endlich, allein mit der Musik der Sprache und der Körper zu spielen, ohne Augenblicke von Schwere, die in manchen seiner vorangegangenen Arbeiten bei allem Esprit immer wieder doch aufschienen.

Seine SchauspielerInnen entwickeln ihre „Figur“ aus Bewegungsmustern, Marotten, Stereotypen und allem, was die Körper sonst noch der Erfüllung gesellschaftlicher Rollenerwartungen unbewusst entgegensetzen. Choreografisches Theater, in dem manche regelrecht um ihr Leben tanzen. Die Ärzteschaft grabscht stummfilmpathetisch in ekligen gelben Gummimänteln mit nosferatulangen Fingernägeln an Hinterteilen und Geldbörsen herum. Große Schauspieler (etwa Johann Adam Oest oder Ignaz Kirchner) genießen den elaborierten Irrsinn in kleinsten Rollen. Herbert Fritsch hat dem Theater Hanswurst zurückgebracht. Der ist entgegen anderslautenden Meldungen eine feinsinnig begabte, kluge Person.

Uwe Mattheiß

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