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Archiv-Artikel

Viele Ärzte lieben „Igel“

Seitdem die Leistungen der Krankenkassen zusammengestrichen werden, bieten Ärzte zunehmend Untersuchungen und Therapien an, die von den Patienten selbst bezahlt werden müssen

VON KLAUS-PETER GÖRLITZER

Wenn Mediziner das Wort „Igel“ lesen, wissen sie: Gemeint sind nicht stachelige Tiere, sondern zusätzliche Einnahmequellen. Das Kürzel steht für „Individuelle Gesundheitsleistungen“, die Patienten aus eigener Tasche bezahlen, weil die gesetzlichen Krankenkassen sie nicht erstatten müssen.

Rund eine Milliarde Euro sollen Arztpraxen – Zahnmediziner nicht mitgezählt – jährlich mit Igel-Angeboten umsetzen, schätzt das Wissenschaftliche Institut der AOK (Wido). Die Hochrechnung basiert auf einer Befragung von 3.891 gesetzlich Versicherten, die das Institut gemeinsam mit der nordrhein-westfälischen Verbraucherzentrale initiiert und ausgewertet hat.

Fast jeder vierte Befragte gab an, binnen zwölf Monaten ein Igel-Angebot erhalten zu haben. Über 300 solcher Selbstzahlerleistungen gibt es inzwischen; verkauft wird, was zumindest „ärztlich vertretbar“ erscheint. Und das kann vieles sein: Die Palette reicht von Vorsorge- und Gesundheitschecks über medizinisch-kosmetische Behandlungen bis zu neuartigen Untersuchungen und Therapien.

Frauen- und Augenärzte „igeln“ laut Wido-Studie am eifrigsten: Zehnmal häufiger als Allgemeinmediziner offerieren sie Dienste, die gesetzliche Kassen nicht bezahlen. Platz drei belegen die Urologen, gefolgt von Hautärzten und Orthopäden. Den Igel-Löwenanteil teilen sich drei Leistungsgruppen: Ultraschall (21,8 Prozent), Augeninnendruckmessungen (16,0 Prozent) und Tests zur Krebsfrüherkennung bei Frauen (10,5 Prozent).

Zu den sinnvollen Selbstzahlerdiensten zählt das Wido Impfungen vor Fernreisen und Eignungsuntersuchungen. Ein Großteil der Igel-Angebote sei jedoch umstritten oder medizinisch überflüssig. „Nicht geeignet“ sind laut Wido etwa die von vielen Gynäkologen zur Früherkennung von Krebs empfohlenen Ultraschalluntersuchungen der Gebärmutter und Eierstöcke.

In die Rubrik „umstritten“ falle der PSA-Test, der helfen soll, Prostatakrebs bei Männern aufzuspüren. Ein Wirksamkeitsnachweis für diese Methode sei „bisher nicht erbracht“ worden, gibt auch Professor Nikolaus Becker vom Krebsforschungszentrum in Heidelberg zu bedenken.

Ganz anders sieht das der Berufsverband der Urologen: Er fordert seit Jahren, das PSA-Screening in den Leistungskatalog der gesetzlichen Kassen aufzunehmen.

Solche Widersprüche und das vielfältige Igel-Spektrum verunsichern viele Versicherte. AOK & Co. versprechen ihren Mitgliedern nun, sie auf Wunsch gratis über Sinn und Unsinn von Selbstzahlerofferten zu beraten. Aufklären sollen zudem „Bewertungen“ zu einigen „marktrelevanten“ Igel-Angeboten, die der Medizinische Dienst der gesetzlichen Kassen ins Internet gestellt hat. Auf seiner Homepage (www.mds-ev.org) nennt er auch wissenschaftliche Quellen, die seine durchweg skeptischen Einschätzungen stützen.

Die Autoren der Wido-Studie sehen zwar die „Gefahr“, dass sich „igelnde“ Ärzte nicht mehr ausreichend auf das Heilen und Lindern von Krankheiten konzentrierten, sondern auf die „private Liquidation von Befindlichkeitsstörungen“. Aber sie lehnen Igel nicht kategorisch ab. Vielmehr fordern sie „Transparenz und Qualitätssicherung“.

Dies finden wohl auch viele Mediziner richtig. Beim Deutschen Ärztetag im Mai wurde jedenfalls aggressives Marketing von Standeskollegen ebenso beklagt wie die Tatsache, dass mangels Transparenz niemand sagen könne, wie hoch die Komplikationsrate bei Igel-Angeboten sei.

Drei Delegierte wollten per Antrag für Abhilfe sorgen. Sie verlangten, dass diejenigen Igel, die „eigentlich“ in den Katalog der gesetzlichen Krankenkassen gehörten, dort auch aufgenommen werden. Nach Meinung der Antragsteller gilt dies zum Beispiel für umweltmedizinische Beratungen und für das Screening zur Früherkennung von Glaukomen (Grüner Star), die schlimmstenfalls zur Erblindung führen können.

Zudem werden die Landesärztekammern aufgefordert, zwei lange Igel-Listen zu erarbeiten: Die eine solle sämtliche Leistungen aufzählen, die sinnvoll und qualitätsgesichert seien. Die andere müsse Igel benennen, die ohne erkennbaren Nutzen oder gar riskant seien. Dazu gehörten etwa Injektionen von Vitamin- und Aufbaupräparaten.

Die Initiative wurde an den Vorstand der Bundesärztekammer (BÄK) überwiesen, „zur weiteren Beratung“. Gleichzeitig legte eine BÄK-Arbeitsgruppe einen Diskussionsentwurf zum Umgang mit Igel vor, der 2006 beschlossen werden soll. Listen mit empfehlenswerten und sinnlosen Igel-Angeboten findet man darin nicht.

Immerhin erinnert das Papier aber daran, dass gegen ärztliches Berufsrecht verstößt, wer Patienten aus kommerziellen Motiven medizinische Leistungen aufdrängt. Derartige Rechtsbrüche scheinen alltäglich zu sein, das belegt auch die Wido-Studie: Über 60 Prozent der Befragten gaben an, die ihnen angebotene Selbstzahlerleistung gar nicht verlangt zu haben.

Ob solche Praktiken durch Appelle und Selbstverpflichtungen zu stoppen sind, darf bezweifelt werden – die Versuchung, offensiv zu „igeln“, ist groß, schon wegen des ökonomischen Drucks, den auch Mediziner spüren.

Eine Ahnung davon vermittelte Mariane Prommer, „Zielgruppenmanagerin Heilberufe“ bei der Hypo-Vereinsbank, unlängst im Interview mit dem Branchenblatt Igel plus. Zur Frage, ob junge Ärzte, die keine Igel anbieten, künftig noch einen Kredit für ihre Niederlassung erhielten, sagte die Bankerin: „Nein, das kann ich mir, von Ausnahmen abgesehen, kaum vorstellen.“