Weit weg vom Herzen

SACHLICHE KLEIDERMODERNE Marieluise Fleißers als Kinderbuch getarntes Modealbum „Im Wirtshaus ist heut Maskenball“

Die Frage von Glamour und herrlichen Kleidern regte Marieluise Fleißers Fantasie an Foto: Nimbus Verlag

von Brigitte Werneburg

Marieluise Fleißers (1901–1974) literarisches Werk liegt in den vier Bänden, die Günther Rühle zwischen 1972 und 1989 im Suhrkamp Verlag herausgeben hat, eigentlich vollständig vor. Sollte man meinen. Jetzt überrascht der Schweizer Nimbus Verlag mit einer Faksimileausgabe des Bilderbuchs „Im Wirtshaus ist heut Maskenball“. 1942, mitten im Krieg, gestaltete die bayerische Schriftstellerin für ihre beiden Neffen Klaus-Dieter und Gerdi Gültig ein Kinderbuch, in dem sie ihre Mode-Faszination ausdrückte. Das mit sichtlicher Hingabe gefertigte Heft, das die Neffen erst nach Fleißers Tod im Nachlass entdeckten, besteht aus sorgfältig aus Modemagazinen ausgeschnittenen Figurinen, fotografierten wie gezeichneten, denen Fleißer kleine lustige Verse wie „die beiden wollen gleich ins Wasser, sie ziehn sich aus, dann ist es nasser“ zur Seite stellte.

Literarisch im engeren Sinn ist dieser faszinierende Fund nicht. Und doch ist die Frage von Glamour und der „herrlichen Kleider“ ein bestimmendes Moment im literarischen Werk Fleißers. Denn sie entscheidet bei ihren jungen Frauen darüber, wie zeitgenössisch modern sie sind, oder besser: wie zeitgenössisch und modern sie sich wünschen, diesen Traum aber aus unterschiedlich komplexen Gründen, von denen Geldmangel nur der grundlegendste ist, verfehlen. Ausgeschlossensein von der Mode bedingt für Fleißer in der 1926 entstandenen Erzählung „Ein Pfund Orangen“ die Existenzkrise: „Was willst du, dachte sie bei sich, du würdest mir das Kleid, mit dem mir geholfen wäre, auch nicht kaufen. So spürte sie immer die Grenze, die den anderen von ihr abhielt. Alle bleiben sie gleich weit weg von ihrem Herzen“, heißt es dort.

Fallhöhe formulieren

Fleißer „kann die mögliche Fallhöhe formulieren“, schreibt Annette Hülsenbeck in ihrem aufschlussreichen Beitrag über das lebenslange Modefaible der Schriftstellerin im sorgfältig editierten Beiheft zur Faksimile-Edition, „da sie einerseits aufmerksam Stil, Stoff und Schnitte der zeitgenössischen Mode studiert, die Arbeitsweise der modernen Textproduktion kennt, anderseits vertraut ist mit Mode- und Geldmangel und der Ungelenkigkeit der ,Sätze mit den kurzen Beinen‚.„ Modemangel war 1942 eine unbestreitbare Tatsache. Bis dahin, als die letzten Modezeitschriften wegen kriegsbedingtem Papiermangel eingestellt wurden, hatten Titel wie die neue linie oder Die Dame − weniger an Paris als an der Uniform orientiert − eine sachliche ­Kleidermoderne auch in den hintersten Winkel der Provinz gebracht.

Die Damen also und die ganz wenigen Herren, die Fleißers Bilderbuch bevölkern, tragen schicke Marlene-Hosen oder flotte Capes für die Reise, die ans Meer geht, denn das Gros der Papierdamen tritt in Strand- und Freizeitkleidung auf. Dazu kommen ein Cowgirl und eine bayerische Resi, freilich nicht im Dirndl, sondern in Hosenrock und Wadlstutzen. Fleißer mischt farbige Modeillustrationen und schwarz-weiße Mode­fotografien, sie beginnen in den 1930er Jahren die Zeichnungen zu verdrängen.

Die Damen also und die ganz wenigen Herren, die Fleißers Bilderbuch bevölkern, tragen schicke Marlene-Hosen oder flotte Capes für die Reise

Die Dame in der braunen Karohose und dem sportlichen gelben Blouson könnte eine Illustration von Stefan Wackwitz’ Mutter sein, die an der Berliner Lette-Schule Modezeichnerin gelernt hatte. Ihr Versuch, in den 1930er und 40er Jahren als Modezeichnerin in Deutschland ein emanzipiertes selbstbestimmtes Leben zu führen, dem der Schriftsteller in „Die Bilder meiner Mutter“ nachspürt, „ihr Künstlerroman“ wie er sagt, gehört durchaus in den Fleißer’schen Kosmos.

Mode, Leben und Liebe

Ebenso denkt man an Helen Hessels Künstlerroman „Ich schreibe aus Paris. Über die Mode, das Leben und die Liebe“, den der Nimbus Verlag letztes Jahr veröffentlicht hat. Hessel informierte die Deutschen bis 1938 aus Paris über Mode. Sie veröffentlichte im ehemaligen Ullstein-Magazin Die Dame, in dem auch Marieluise Fleißer, deren „Pioniere von Ingolstadt“ 1933 bei der nationalsozialistischen Bücherverbrennung dem Feuer übergeben worden waren und die in der Folge mehr und mehr verstummte, 1935 noch die Erzählung „Die Lawine“ und 1936 „Das Erwachen der Penelope“ veröffentlichen konnte.

Marieluise Fleißer: „Im Wirtshaus ist heut Maskenball.Bilderbuch für Klaus-Dieter und Gerdi, 1942“. 2 Bände im Schmuckschuber: Band 1: Faksimile des „Bilderbuchs für Klaus-Dieter und Gerdi“ in Originalgröße (16 Seiten). Band 2: Begleitheft mit Aufsätzen von Klaus Gültig, Eva Pfister und Annette Hülsenbeck, herausgegeben von Karl Manfred Fischer. Nimbus Verlag, Wädenswil 2015, 88 Seiten, 95 Illustrationen, 48,80 Euro