: Endlich ein Ja zu Stuttgart
EnergieDie Kraft der Rockmusik aus dem Süden: Die Nerven spielen im Lido ein elektrisierendes und zu Bekenntnissen ladendes Konzert
Mein Konzert mit Die Nerven beginnt in der Deutschen Bahn und endet vor der eigenen Haustür, dazwischen habe ich einen veritablen Flashback.
Aber der Reihe nach.
Auf der Fahrt von Mannheim nach Berlin hält der Zug wegen eines Polizeieinsatzes außerfahrplanmäßig in Stendal. Zum Konzert komme ich also zu spät, mit dem neuen Album „Out“ vom Discman auf den Ohren überlege ich, welche Liedzeile später wohl am besten meine Stimmung trifft. Bei den letzten Worten von „Die Unschuld in Person“ stehe ich am Donnerstag endlich im Lido, Max Rieger singt „Denn wenn du denkst, ich sei es / dann bin ich’s sicher nicht“. Ein erstes Hochgefühl stellt sich ein, es ist der zweite oder dritte Song des Abends.
Rieger ist groß, schlaksig und spielt Gitarre, ihm gegenüber schüttelt Julian Knoth die braunen Locken ausgiebig über seinem Bass, stimmt in Gesang oder Schreie mit ein, zwischen ihnen ist Kevin Kuhn ein Strudel aus langen, wehenden Haaren und Drumsticks, die zufällig ein weißes T-Shirt übergestreift haben. Wie kann ein Schlagzeuger so draufhauen und gleichzeitig jeden Rockgestus in die Flucht schlagen? Nur im Dreieck mit den Riffs, die Rieger und Knoth ins Publikum brettern.
Von der zunehmend bebenden Menge abgewandt, neigen sie sich Kuhn zu. Ein Triumvirat. Die kurzen Akkorde werden mit jeder Wiederholung heftiger. Zur Sucht wird dieser enorm körperliche Sound, weil inmitten oder am Ende fast jeden Songs der brachiale Entzug steht, das Trio kappt die bis zur Rastlosigkeit gesteigerte Unruhe gnadenlos auf ihrer Höhe.
Keine Konzertroutine
Das Wechselbad verkommt jedoch nie zu berechenbarer Konzertroutine, was an den sagenhaften Texten liegt, die jeden Ton ins Werk setzen. Die Nerven spielen Songs ihres aktuellen Albums „Out“ und des Vorgängers „Fun“, sie geben dem Ich die Stimme der Angst, der Unsichtbarkeit angesichts eines Gegenübers, dessen „Blaue Flecken“ nicht heilen, sie behaupten, „alles ist verdreckt / vergiss die ganzen Pläne“, oder schaffen es ohne Verletzungen „Barfuß durch die Scherben“.
Kaum zu glauben, aber die drei brauchen gar keine Allüren.
Während eines langen Intros wiegt sich Rieger von Seite zu Seite und tanzt selbstvergessen frontal zum Publikum. Die Titelzeile „Ich bin der letzte Tanzende“ ergibt sich aus seiner Bewegung – und mir geht schlagartig auf, dass genau dieser Song mich vor drei Jahren elektrisiert hat, meiner früheren Tanzlaufbahn wegen. Rieger bricht ab und fordert das Publikum mit dem Zeigefinger vor dem Mund auf, Ruhe zu geben. Tatsächlich wird es leiser, nach ein paar Zwischenrufen lässt Rieger von hinten Scheinwerfer in die Menge strahlen. Denn es ist wahr: Nach den Terroranschlägen in Paris verströmen diese Worte nicht mehr die imaginierte Selbstvergewisserung, die Wirklichkeit hat sie grausam eingeholt.
Nach der Zugabe „Nie wieder scheitern“ endet das Konzert mit einem Geburtstagsständchen für Angelo, den Fahrer der Band. Beim Hinausgehen sehe ich allenthalben beglückte Mienen, sofern sich solche hinter den weithin gewucherten Bärten ausmachen lassen. Die Gesichter der vielen ganz unterschiedlichen Frauen, die beim Konzert zugegen waren, sind schöner anzusehen.
Auf dem Heimweg erlaube ich mir die Frage, ob sich im Taxi denn ein CD-Player befinde. Der Fahrer bejaht und nimmt die CD lässig entgegen. Er steuert die Beschallung für die Rückbank an und verstärkt den Bass. Noch einmal nicke und wippe ich mit, bis vor die Haustür.
Die Nerven kommen aus Stuttgart und sind mehr als zehn Jahre jünger als ich. Aber der erste Grund, zu bejahen, dort selbst auf die Welt gekommen zu sein. Franziska Buhre
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