Berliner Szenen: Nachbarschaftsresterampe
In die Tonne
Immer mal wieder werden auf den Briefkästen in dem Haus, in dem ich wohne, Gegenstände, die jemand nicht mehr braucht, abgestellt. Nippes aus Porzellan, Plastikspielzeug, Kerzenständer, Bücher. Manchmal sind es so viele Bücher, dass sie in Kisten unter den Briefkästen abgestellt werden. Einmal waren es jede Menge Publikationen zur Betriebswirtschaftslehre. Offenbar hatte ein Nachbar sein Studium beendet oder aufgegeben. Mitgenommen habe ich nie etwas von dieser Nachbarschaftsresterampe.
Einen Tag vor dem ersten Advent standen zwei nigelnagelneue Exemplare des gleichen Romans auf den Briefkästen: „Ein ganzes halbes Jahr“ lautete der Titel. Das kitschige Cover zierten rote Blümchen und eine Frau, die einen Vogel fliegen lässt. Ohne viel nachzudenken, nahm ich ein Exemplar mit. Kaum hatte ich es die 72 Stufen in meine Wohnung hoch getragen, bereute ich es auch schon. „Als er aus dem Bad kommt, ist sie wach, hat sich gegen das Kopfkissen gelehnt und blättert durch die Reiseprospekte, die neben seinem Bett gelegen haben“, lautet der erste Satz.
Und es kamen noch viele schlimme Sätze. „Sie schaut von einem Prospekt auf und zieht einen Schmollmund.“ Die Frau sollte noch sehr, sehr oft einen Schmollmund ziehen. Im Internet las ich, dass eine englische Autorin das Werk verfasst hat, in dem sie die Liebesgeschichte einer jungen Frau zu einem reichen Tetraplegiker erzählt. Es wurde in über 30 Sprachen übersetzt.
Das machte die Lektüre nicht besser. Mir grauste bei der Vorstellung, wie viele Bäume gefällt werden mussten, um 543 Seiten mit Schwachsinn zu bedrucken. Es war kein wirklicher Trost, als ich auf der letzten Seite las, dass das Papier „aus verantwortungsvollen Quellen“ stammt. Am ersten Advent entsorgte ich „Ein ganzes halbes Jahr“ in der Papiertonne. Barbara Bollwahn
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