Vergiss, was du in Reiseführern liest

KINO Regisseur Ben Hopkins zeigt in „Hasret“ Istanbul als Hauptstadt der Katzen, der Graffiti und des Protests

Meistens sind die Sachen, die einen an einer Stadt interessieren, in keinem Reiseführer zu finden. Dort wird einem vorgeschlagen, bestimmte Museen, Plätze, Brücken und Speiselokale zu besuchen. Die Autoren schlagen Orte vor, die sie vielleicht selbst nie besucht haben. Menschen sind dabei genauso wie Großstädte: Sie verstecken ihre Geheimnisse, und sie verstecken das, was sie eigentlich an einer Stadt mögen, weil sie Angst davor haben, sich selbst zu erkennen zu geben. Wahre Geschichten einer Stadt jedoch können nicht ohne persönliche Erfahrungen anderer erzählt werden. In seinem dritten Film konzentriert sich Regisseur Ben Hopkins auf seine eigene Erfahrung mit der Stadt Istanbul. „Hasret“ ist ein Spielfilm im Stil einer Dokumentation, eine Art „Mockumentary“. Der Film ist die subjektive Darstellung einer Stadt und zugleich ein Porträt des Künstlers.

„Hasret“ beginnt mit einer Aufnahme des Filmteams und Hopkins’ ruhiger Stimme aus dem Off, die erzählt, was wir nun zu sehen bekommen. Das Filmteam fährt in einem Container umher – wegen fehlendem Budget. Hopkins sagt, dass es ihre Aufgabe sei, eine Doku über Istanbul zu drehen. Doch wenig später finden sie heraus, dass es ihnen künstlerisch nicht möglich ist, den engstirnigen touristischen Dokumentarfilm zu machen, den die Auftraggeber von ihnen erwarten. Hopkins entscheidet daher, die vermeintliche Touri-Doku in ein besonderes Kunstwerk umzuwandeln.

Zunächst sieht es aus wie der typische Fall eines Filmteams, das eine Doku drehen will, bei dem dann jedoch etwas schief läuft. „Hasret“ macht sich dabei auf kalte Art und Weise über die Filmbranche und Fernsehdokumentationen lustig. Statt zum Beispiel konventionell-langweilig den Bosporus zu zeigen, entscheidet sich Hopkins dafür, linken Rebellen vom Kiez „Küçük Armutlu” zu folgen. Und statt prächtiger Meeresbilder zeigt Hopkins lieber hässliche Wolkenkratzer und Baustellen.

Liste interessanter Leichen

Hopkins versucht nicht einmal, die kleinen, anheimelnden Gassen von Istanbul darzustellen. Stattdessen richtet er seine Kamera auf Graffitis von den Gezi-Protesten. Auch stellt Hopkins keine renommierten Experten oder Künstler vor die Kamera, damit diese einen Vortrag über Istanbul halten. Er lauscht lieber einem kleinen alten Mann (Isa Çelik), der glaubt, dass Istanbul einst eine Katzenhauptstadt war und dass die Stadt immer noch – Gott sei Dank – unter deren Schutz steht. Wenn die Katzen uns verließen, breche die Stadt zusammen, behauptet er. Der Alte überreicht ihm zudem eine Liste mit „interessanten Leichen“: Denn nur die Toten könnten diese Stadt beschreiben. Nach der Zerstörung so vieler Gegenstände des Kulturerbes können in der Tat nur die Toten sich an die wahre kulturelle Identität der Stadt erinnern und darüber reden.

Hopkins weiß, dass es unmöglich ist, Istanbul in seiner Gesamtheit darzustellen. Und er bleibt ein Zugezogener, was einen Abstand zwischen ihm und der Stadt erzeugt. Im Film nutzt Hopkins diesen Abstand als humoristisches Mittel. So entsteht für angestammte Istanbuler eine erfrischend neue Perspektive.

Dass etliche kulturelle Institutionen Istanbuls der neoliberalen Politik der türkischen Regierung zum Opfer gefallen sind, ist kein Geheimnis, darunter das Emek-Kino und das Yeni-Melek-Kino. Vor allem in den letzten zehn Jahren war Istanbuls Umwandlung brutal. „Hasret“ bemüht sich, diese Umwandlung durch die Augen eines Künstlers auf naive Weise zusammenzufassen. „Hasret“ vermittelt so das Bild, es gebe noch vieles, was noch vor dieser neoliberalen Transformation zu retten ist, ohne darüber die historischen oder aktuellen Kulturverluste zu vergessen.

Auch wenn die letzten zehn Minuten des Films düster und deprimierend sind, gibt es trotzdem Hoffnung im Film. Zum Beispiel kann man immer noch Cafés mit komischen Namen wie „Café for mad people“ finden. Vergiss alles, was du in Reiseführern liest, Tote und ihre Geheimnisse sind überall. „Hasret“ erinnert uns daran. Murat Eren

„Hasret“. Regie: Ben Hopkins. Mit İsa Çelik, Serhat Murat Saymad u.a. Türkei/Deutschland 2015, 82 Min.

Übersetzung: Nicholas Potter

Murat Eren von der Istanbuler Zeitung Radikal ist Gastjournalist der taz