Abgründe in der Baugrube

Festival „Around the World in 14 Films” das Festival der Festivals ist zu seinem zehnten Jubiläum an den neuen Spielort KulturBrauerei umgezogen. Das führt erfreulicherweise zu deutlich besseren Sichtverhältnissen

Szene mit Dorna Dibaj als Lehrerin Hanieh aus Sina Ataeian Denas Spielfilm „Paradise“ Foto: Bon Voyage Films

von Silvia Hallensleben

Jedes internationale Filmfestival ist neben einer Tour d’horizon durch Stoffe und Handschriften auch Weltreise im wörtlichen Sinn. Doch welcher private Enthusiast hat schon Mittel und Muße, regelmäßig auf die Festivals von Cannes, Rotterdam oder Toronto zu fahren, auf denen der in Berlin lebende Bernhard Karl als Mitarbeiter des Münchner Filmfests regelmäßig unterwegs ist?

So entstand – gemeinsam mit befreundeten Filmliebhabern – die Idee, die Entdeckungen der eigenen Festivaltouren nach Berlin kommen zu lassen, um sie hier als Festival der Festivals regional sortiert dem Publikum zu präsentieren. Ergänzt wird das „Around the World in 14 Films” durch wechselnde Extraprogramme und Gespräche, in denen sogenannte Paten – von Romuald Karmakar bis Knut Elstermann – die Filme mit den eingeladenen Gästen und Publikum bereden.

Zum zehnten Jubiläum wird das Festival jetzt an einen neuen Spielort im Kino der KulturBrauerei umziehen. Der bringt gegenüber der bisherigen Herberge im Babylon-Mitte deutlich bessere Sichtverhältnisse, bei einem fast durchgängig untertitelten Programm keine Petitesse. Begonnen wird am Freitag mit Nicolette Krebitz als Patin und einem französischen Film, dessen Kosmos aus verordneter Selbstvermarktung und Herrschaftsroutinen aber genauso in Itzehoe liegen könnte.

„Der Wert des Menschen” (Regie: Stéphane Brizé) erzählt von einem ehemaligen Facharbeiter und Familienvater, der nach Schließung seiner Fabrik und sinnlosen Praktika und Bewerbungstrainings eine Stelle hinter dem Kamera-Überwachungssystem eines Discounters bekommt, wo er neben den Kunden auch die eigenen Kollegen ausspitzeln soll.

Brizés Film inszeniert diese Entwicklung in langen präzise beobachtenden Sequenzen, die – wie auffällig viele Filme des Festivals – ein Ensemble mehr oder weniger sich selbst spielender Laien – um Hauptakteur Vincent Lindon setzen. Der bekam für seine Interpretation in Cannes die Palme als bester Darsteller und kann (auch wenn er privat mit einer Prinzessin liiert war) mit seiner melancholisch verwitterten Gestalt perfekt als Ikone untergegangener proletarischer Identitäten stehen.

Ähnlich starken Eindruck macht in „Paradies“ das missmutige Gesicht von Dorna Dibaj, das sich hinter einem übergroßen Brillengestell in den beruflich vorgeschriebenen schwarzen Tschador duckt und von Regisseur Sina Ataiean Dena zusätzlich gerne in enge Rahmen gesetzt wird. Hanieh ist Lehrerin in einer Grundschule bei Teheran – und wie für den Franzosen Thierry ist es auch ihre Aufgabe, die strukturelle Gewalt eines (hier von Tradition statt Ökonomie induzierten) Systems nach unten weiter zu gegeben. Lichtblick sind da nur die gepeinigten Schülerinnen selbst, die trotz des Drucks jede sich bietende Möglichkeit zum Ausbruch übersprühender wilder Lebensfreude nutzen.

„Paradise”, der mit sehr wenig Geld und kleinem Team in drei Jahren klandestin in der Hauptstadt Teheran gedreht wurde, ist eine der Entdeckungen der „14 Films”, die dieses Jahr von Europa nach Amerika und Asien reisen – von Yorgos Lanthimos’ umjubelter Groteske „The Lobster” bis zu Hou Hsiao-Hsien, der als letzter der Altmeister mit „The Assassin” nun auch sein höchst gelungenes opulentes Martial-Arts-Großepos abliefert. Dabei ist – apropos Altmeister – mit Laura Guzmán übrigens mal wieder nur eine einzige Frau als Koregisseurin des karibischen Sextourismusdramas „Sand Dollars” im Programm präsent.

„Arabian Nights” ist wohl der ambitionierteste der insgesamt 23 Filme

Ein Höhepunkt ist Apichatpong Weerasethakul, der diesmal aus einer Baugrube hinter einer traumhaft lichtdurchfluteten Dschungel-Krankenstation verschüttete (und gewaltsame) Abgründe thailändischer Geschichte ans Tageslicht bringt – und dazu narkoleptische Soldaten und die Geister verstorbener Prinzessinnen einsetzt.

Mit seinen fantastischen, von persönlichen Erinnerungen und lokalen Traditionen gespeisten Fabulationen ist Weerasethakul seit seinem Cannes-Debüt 2002 zu Recht ein Liebling des globalen Festivalzirkus, was aber – die lange Liste der Produzenten im Vorspann des Films zeigt es – die Finanzierung nicht weniger schwierig macht.

Von Festival-Kosponsor Arte koproduziert, ist „Arabian Nights” wohl der ambitionierteste und ungewöhnlichste der insgesamt 23 Filme, mit dem der portugiesische Filmemacher Miguel Gomes eine kinematografische Form für die Krise der letzten Jahre und ihrer Auswirkungen auf sein Heimatland sucht. Dabei ist die orientalische Vorlage nur Rahmen des dreiteiligen und über sechsstündigen Großopus, dessen einzelne Episoden journalistisch recherchierte Begebenheiten aus dem heutigen Portugal in ein vielfältiges Spektrum künstlerischer Kleinformen verwandeln: eine fordernde und erkenntnisfördernde Seh- und Hörerfahrung, die sich jenseits solcher Filmsonderereignisse wegen ihres sperrigen Formats auf der Leinwand rar machen dürfte.

Kino in der KulturBrauerei, 27. 11 bis 6. 12., Eröffnung Freitag, 19.30 Uhr, mit „La loi du marché“ in Anwesenheit von Nicolette Krebitz (Patin) und Vincent Lindon (Hauptdarsteller)