Verschiebung, Verdrängung
Kino Das Spielfilmdebüt „Meeres Stille“ von Juliane Fezer wagt ein Erzählexperiment
Das Spannendste und Überraschendste des derzeitigen deutschen Autorenkinos
Bereits im Titel kündigt es sich an, das zentrale Verfahren dieses Films, die Verschiebung nämlich – und das auf inhaltlicher wie formaler Ebene: Hieße es anderswo „Meeresrauschen“ und zöge damit gängige Narrative wie geläufige Bildformeln nach sich, so lautet die Vorgabe hier entsprechend der literarischen Vorlage, Stefan Beuses gleichnamigem Roman aus dem Jahr 2003, „Meeres Stille“ (und eben nicht Meeresstille oder Des Meeres Stille).
Das ist mehr als verkaufsstrategischer Manierismus. Viel mehr. Denn etwa auch das subtile Auseinanderschieben von scheinbar Zusammengehörigem und doch nur Zusammengesetztem klingt da schon mit. Und um das geht es in Juliane Fezers Spielfilmdebüt, das 2013 bei den Hofer Filmtagen Festivalpremiere feierte.
Als „Mosaik auf mehreren Zeit- und Erzählebenen“ beschreiben Fezer und Alexandra Krampe (gemeinsam sind sie Julex Film) diesen Versuch der analytische Zerlegung, ja Zersetzung, mitunter Zerfetzung der Kernfamilie – hier: die Sanders. Helen und Johannes die Eltern, Frances die Tochter. Ein letztes Mal geht es in den gemeinsamen Familienurlaub. Die Reise wird zum Trip in die verstellte Vergangenheit, hin – hinter – hinunter – hinüber in eine andere Sphäre, die der seelischen Realitäten.
Das hört sich in dieser Abkürzung fast banal an, Genreschublade: Psychodrama. Auch die Handlungsbeschreibung trägt wenig bei zur Klärung des durchaus Besonderen dieses Films, der fast schlafwandlerisch die Grenzen zum Genrekino wie zum Fernsehdrama touchiert (nur um sie immer wieder vehement zu verschieben): In Berlin wird entrümpelt, das Auto vollgepackt, das Ostsee-Domizil bezogen, erste Ver-/Spannungen zeichnen sich ab … voilà die Ingredienzen des very average German Film.
Aber: „Meeres Stille“ operiert filmisch. Schon im scheinbar hundertfach gesehenen Auftakt („Auf in den Urlaub“) wird das spürbar, er gehört im Hinblick auf Montage, Schnitt, Perspektiven mit zum Spannendsten und Überraschendsten, was das deutsche Autorenkino derzeit anbietet. Gerade vor der Folie des Alltäglichen kann sich Fezers stilistischer Neo-Sensibilismus entfalten.
In Sekundenbruchteilen werden hier Brüche und Irritationen hörbar und sichtbar (die Störung kommt zunächst übers Ohr, Hände werden taub), die sich direkt von den Figuren auf die ZuschauerInnen übertragen. Im Zentrum steht die Zerrüttung von Helen (Ehefrau, Mutter, Frau mit, wie sich herausstellen wird, verdrängtem Vor- bzw. Zweitleben). Sie wird dargestellt vom dänischen Film- und TV-Star Charlotte Munck, ein Schachzug, der sich perfekt in die minutiösen Verschiebungsakte von „Meeres Stille“ einreiht. Keine Hoss, keine Minichmayr, der leichte Akzent kommt authentisch (und hierzulande unvorbelastet), er steht für die intrinsische Verfremdung dieser Frau, eine weibliche Entfremdung letztlich, die – kein Gender-Einzelschicksal – fast unbemerkbar bleibt.
Mit seiner Grundstruktur der verwinkelt-sprunghaften Sujet-Montage wagt „Meeres Stille“ ein Erzählexperiment, das den fragmentarischen Momenten des Erlebens alle Bedeutung zuspricht (und dem Ganzen, Linearen abschwört). „Wovor man Angst hat, das geschieht bereits“, heißt es an einer Stelle.
Das ist die metapoetische Beschreibung dessen, was Helen und mit ihr der Film in bewusster Überlänge probiert: ein Leben, eine Beziehung, eine Familie weiterlaufen zu lassen und gleichzeitig Psychoanalyse zu betreiben, zuzulassen, jenseits der Couch. Auch wenn die therapeutische „Vermittlung eines vertieften Verstehens ursächlicher Zusammenhänge“ gegen Ende fast zu wörtlich genommen wird und zu einem übermäßigen Zuzurren der Erzählstränge (wie zeitlichen Ebenen) führt, wenngleich sich also fast zu viele Kreise schließen, so bleibt doch: der Sound, das Trauma, der Moment.
Barbara Wurm
„Meeres Stille“. Regie: Juliane Fezer. Mit Charlotte Munk, Christoph Gawenda u. a. Duetschland 2013, 142 Min. Zu sehen vom 16. bis 18. November, 20 Uhr, Brotfabrik