: Singen mit Händen und Füßen
NEUE MUSIK Groove aus vielen Kehlen: Der Rias Kammerchor begab sich mit einem von ihm in Auftrag gegebenen Werk des Jazzpianisten Nik Bärtsch auf Neuland
Sprache ist Rhythmus. Gut, sie ist auch einiges mehr. Doch ohne Rhythmus wäre sie nicht das, was wir als Sprache kennen. Sprache muss gesprochen sein, und sei es mit der inneren Stimme, um ihre Botschaft zu verkünden. Oder um zu singen. Ein Chor, der spricht, macht daher auch Musik. Und wenn der Text einen starken Rhythmus hat, empfiehlt sich das Betonen des Rhythmus im bloßen Sprechen umso mehr, wie beim Rap.
Nach HipHop klang das zwar nicht, was der Schweizer Komponist Nik Bärtsch im Auftrag des Rias Kammerchors geschrieben hat. Doch sein Werk „AIM – Ich gehe“, das am Dienstag im Kammermusiksaal der Philharmonie die Deutsche Erstaufführung erlebte, hat allemal Groove.
Bärtsch verfolgt in seinen Jazzprojekten, allen voran sein Quartett Ronin, einen minimalistischen Stil, den er wahlweise „Zen-Funk“ oder „Ritual Groove Music“ getauft hat. Rituelles kommt in seinem Chorstück weniger zum Tragen, es ist eher Kontemplatives, mit vokalem Swing versetzt. Texte von Heiner Müller, William Shakespeare und aus einem Kindermärchen hat Bärtsch für den Rias Kammerchor zusammengetragen. Passagen, in denen es um den Aufbruch in das Leben oder in den Tod geht. Passagen, in denen Väter von ihren Töchtern erzählen – Bärtsch ist selbst dreifacher Tochtervater.
Der Chor spricht dabei nicht nur, er singt auch, über einzelne Gruppen verteilt, dann wieder reihum solistisch oder als komplettes Ensemble. Phrasen wie „in einem Liegestuhl“ nutzt Bärtsch, um den 35 Sängerinnen und Sängern des Rias Kammerchors Gelegenheit zu geben, ihre rhythmische Präzision selbst bei den einfachsten Worten unter Beweis zu stellen. Um Rhythmus geht es nicht allein beim Sprechen und Singen, die Musiker klatschen sogar dazu, stampfen mit dem Fuß auf, geben sich als musizierende Körper zu erkennen.
Bärtsch hat als Begleitung zwei Klaviere vorgesehen, den Part übernahmen die türkischen Pianistinnen Ufuk und Bahar Dördüncu, die ihrerseits nicht einfach die Tasten ihrer Instrumente bedienen: Das Geschwisterpaar spielt zum Teil auf präparierten Klaviersaiten, zupft im Innenraum des Flügels und haut mit Schlägeln auf den Klavierrahmen. Mit federndem Groove, versteht sich.
Zuvor waren Werke der New York School um den Komponisten John Cage erklungen, die zu Besetzung von Bärtschs Stück passten. Von Cage selbst kam mit „Four2“ ein Chorstück aus dessen Spätphase, bei dem die Sänger in kleinen Gruppen verteilt im Publikum saßen, sich zum Singen erhoben und immer neue Klangkonstellationen im Raum bildeten. Aus langen, ruhigen Tönen.
Ruhige Töne auch bei dem mit Cage eng befreundeten Morton Feldman, der in „Christian Wolff in Cambridge“ ebenmäßige Vokalakkorde auf den Laut „u“ singen ließ, eine fast statische Bewegung von Augenblick zu Augenblick. Auch der von Feldman im Titel genannte Christian Wolff kam mit gleich drei kürzeren Stücken zur Geltung. Zwei Klavierduos, in denen die Dördüncü-Geschwister virtuos zwischen dem Spiel im Inneren des Klaviers, mit präparierten Saiten und ganz herkömmlich auf den Tasten hin und her wechselten. Wolffs Chorstück „Evening Shade, Wake up“ von 2004 – er war neben Bärtsch der einzige noch lebende Komponist im Programm –, das zwischen die beiden Duos gesetzt war, beginnt mit einem homogen Chorklang, der sich immer weiter individualisiert, bis jede einzelne Stimme eine eigene Linie zu singen scheint, während sich der Klang dramatisch steigert.
Das älteste Stück des Programms stammt vom US-Amerikaner Elliott Sharp, „The Defense of Corinth“, ein Frühwerk von 1941 für Männerchor und Klavier zu vier Händen, in dem Sharp einen Abschnitt aus François Rabelais’ Roman „Gargantua et Pantagruel“ vertont. In gewisser Hinsicht das konventionellste, aber in seiner erzählerischen Dringlichkeit auch das energischste – und komischste Stück des Abends.
Tim Caspar Boehme
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen