Union vergrätzt Wirtschaftsforscher

Steuererhöhungen? Liberale Ökonomen trauen ihren Ohren nicht: Noch nicht mal Kanzlerpartei, greift die Union schon zu Medikamenten aus dem Giftschrank. Währenddessen bezweifelt DIW-Ökonom Vesper das Ausmaß der Haushaltslücke

AUS BERLIN HANNES KOCH

Das hat die Union nun davon. Noch nicht ganz an der Regierung, verscherzt sie es sich schon mit ihren prominentesten Wirtschaftsberatern. Die Ökonomen mögen gar nicht glauben, was in Berlin passiert: Erhöhung der Mehrwertsteuer, Diskussion über einen zusätzlichen Solidaritätszuschlag, höhere Einkommenssteuer? „Das ist das völlig falsche Instrumentarium“, schäumt Alfred Boss von Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW).

Bisher verwies die Union gern auf die Kritik der Mainstream-Ökonomen an der Politik der rot-grünen Bundesregierung. Da werde viel zu wenig gespart, hieß es immer – und die Union applaudierte. Nun, da Christ- und Sozialdemokraten gemeinsam und ähnlich ratlos vor dem Budgetdefizit stehen, hat die herrschende Wirtschaftsforschung die Union der Unglaubwürdigkeit überführt.

Nicht Einnahmen erhöhen, sondern Ausgaben kürzen – so lautet der nahezu einhellige Rat der Wissenschaft zur Bewältigung des Haushaltsdefizits von 35 Milliarden Euro. IfW-Ökonom Boss verweist auf die Liste, die die Ministerpräsidenten Roland Koch (CDU) und Peer Steinbrück (SPD) vor zwei Jahren ausarbeiten ließen. Darin enthalten ist die Summe von 77 Milliarden Euro, die der deutsche Staat jährlich für Steuersubventionen und Finanzhilfen ausgibt – darunter Eigenheimzulage und Pendlerpauschale. „Aus dieser Liste kann man durchaus 35 Milliarden Euro herausholen“, sagt Alfred Boss, „aber das setzt Mut voraus, denn es gibt viel Ärger.“

Michael Hüther, Chef des arbeitgebernahen Instituts der Deutschen Wirtschaft in Köln, pflichtet ihm bei. Statt die „Phantomdiskussion über höhere Steuern zu führen, muss man bei den Ausgaben konsolidieren“. Heißt: die Subventionen um einen festgelegten Prozentsatz Jahr für Jahr kürzen. Zwei große Schritte der Reduzierung um jeweils 25 Prozent, und 2007 wäre das Einsparziel von 35 Milliarden Euro zumindest rechnerisch erreicht.

Als Vorbild nennt Hüther die Förderung des Steinkohlebergbaus, die seit Jahren planmäßig abgeschmolzen werde. Darauf könnten sich Bürger und Unternehmen einstellen, was die Gegenwehr reduziere.

Ähnlich wie Michael Hüther nennt auch Kollege Rüdiger Parsche vom Münchner Ifo-Institut zusätzlich zu den Kürzungen von Subventionen Einsparmöglichkeiten bei den Sozialausgaben. Namentlich bei Hartz IV müssten die Ausgaben reduziert werden, wenn beim Streichen von Steuervergünstigungen die notwendigen Beträge nicht einzusammeln seien.

Parsche rät den Koalitionären außerdem, eine Autobahngebühr für Pkws analog zur Lkw-Maut einzuführen. Auch damit ließen sich einige Milliarden Euro beschaffen.

Eine abweichende Meinung vertritt Dieter Vesper vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in Berlin, das traditionell eher nachfrageorientierte Positionen vertritt. Er bezweifelt die Größe des strukturellen Defizits im Bundeshaushalt, das Roland Koch, CDU-Chefverhandler in Sachen Finanzen, unlängst mit 70 Milliarden Euro angegeben hatte. Vesper hält das für Panikmache – und kommt bei seinen eigenen Berechnungen auf höchsten 40 Milliarden. Demzufolge gehe es auch um kleinere Beträge, die die große Koalition finanzieren müsse. Vesper rät zudem, sich etwas mehr Zeit zu lassen und nicht im Jahr 2007 schon alles erledigt haben zu wollen.

Steuererhöhungen – etwa bei der Mehrwertsteuer – kommen sowohl für IfW-Forscher Alfred Boss als auch für Dieter Vesper vom DIW nur unter einer Bedingung überhaupt in Frage: Die zusätzlichen Einnahmen müssten für sinnvolle Zwecke ausgegeben werden, die nicht „Sparen“ heißen. Eine Möglichkeit wäre: Die höheren Einnahmen könnten dazu dienen, die Beiträge für die Arbeitslosenversicherung zu senken, erklärt Boss. Dieter Vesper dagegen plädiert für vermehrte staatliche Investitionen in öffentliche Infrastruktur, um dadurch einen konjunkturellen Impuls zu setzen.

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