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Tarnkappe und Scheuklappe

TANZ Wenn der Körper einmal zur Ware geworden ist, sitzt der Choreograf als Kapitalismuskritiker in der Falle. Oder etwa nicht? In der Reihe „Marx’ Gespenster“ im HAU versucht Keith Hennessy eine Befreiung

von Astrid Kaminski

Mit den Tillergirls hat der ornamentale Massentanz laut Siegfried Kracauer und seinen Essays „Das Ornament der Masse“ (1920–1931) begonnen. Die Til­ler­girls, die das Prinzip von handlungsfreien, rein formativen Choreografien aufbrachten, lieferten ihm einerseits eine lebendige Allegorie auf den Warenfetischismus des Kapitalismus: Die Ununterscheidbarkeit der „Mädchenkomplexe“, ihre Ausrichtung auf die Hervorbringung der Form vergleicht Krakauer mit dem kapitalistischen Produktionsprozess, in dem der Mensch reibungslos im Dienst der Maschinen funktioniert.

Gerade darum erkennt er jedoch auch die Zerstreuungsleistung der „Girleinheiten“ an. Sie spiegeln das „Formprinzip“, nach dem Fabriken und Büros funktionieren, und stehen damit dem „Realitätsgrad nach über der künstlerischen Produktion“.

Erstaunlicherweise sollte sich aber zeigen, dass die Ästhetik des Ornaments der Masse nicht nur auf den amerikanisch geprägten Kapitalismus, sondern erst recht in den totalitären Systemen von Faschismus und Kommunismus anwendbar ist. Dass sich auch die von Krakauer analysierte Wirkung der „Überhöhung des Körperlichen mit Bedeutung“ bestens übertragen lässt.

Das ist mit ein Grund, warum geometrische Gruppenformationen im zeitgenössischen Tanz grundsätzlich verdächtig sind und es viel Subtilität erfordert, um differenzierte Aussagen mit synchronen und „außengesteuerten“ Bewegungsabläufen zu entwickeln. Darum sieht zeitgenössischer Tanz manchmal einfach nur nach Chaos aus: ja keine reglementierenden ­Absprachen, ja kein Zurschaustellen von Virtuosität, hinter der sich nämlich nichts anderes als die systematische Beherrschung von Körpertechniken verbirgt.

In „Turbulence“, dem Beitrag von Keith Hennessy und seinem Kollektiv Circo Zero zu „Marx’ Gespenster“, dem aktuellen Themenschwerpunkt im HAU, ist dieses Grundsatzdilemma des Tanzes in seine Extreme zerlegt und gleichzeitig in ihnen vereint: hohe Virtuosität, gepaart mit höchster Irrationalität. Besser illustrieren als im Synchronpinkeln von zwei Performer*innen, beide mit männlichem Geschlechtsteil, lässt sich das nicht. Was aussieht wie ein Sichgehenlassen, ist ein virtuoser Akt des Abbaus von Blockaden einerseits, der Kontrolle von Körperflüssigkeit andererseits.

Keith Hennessy, der seinen Arbeitsschwerpunkt in Kalifornien hat, steht für eine radikale Strömung des zeitgenössischen Tanzes, in der die Realität der Bühne keine Trennung vom Alltag der Performer*innen, sondern eine Art rituelle Verdichtung von Alltagspraxis bedeutet. Komponenten seiner formal offenen Arbeiten sind Gemeinschaft, Schamanismus, Queertheorie und -Praxis, aber auch das Experimentieren mit verschiedensten somatischen Techniken. In der Berliner Tanzwelt gehören diese Themen zur Westcoastästhetik, die sich vor allem durch die Sommerresidenz der Szene in der Uckermark verbreitet hat. Auch die jüngeren Arbeiten von Meg Stuart gehören in diesen hyperästhetischen Einflussbereich.

In „Turbulence“ ist dieses Grundsatzdilemma des Tanzes in seine Extreme zerlegt

Was bei Meg Stuart dann aber zur Form getrimmt wird, bleibt bei Hennessy unbehauen. „Turbulence“ hat weder einen richtigen Anfang noch ein richtiges Ende. Spielorte werden teilweise durch Pappkartons markiert, die an Occupy erinnern, eine weitere Fläche ist dem Sounddesign vorbehalten und mit Synthesizer, Kabeln und allem möglichen anderen Zubehör bestückt. Ein Trapez hängt von der Decke: Ein anarchischer Spielplatz, auf dem nach einigen Überredenskünsten die Smartphones des Publikums um einen in Eigenregie halb abgeschnürten Körper – Systemversklavung ist schließlich nicht nur ein passiver Akt – drapiert werden. Hier wird zudem geturnt, aus Naomi Kleins „Shock Doctrine“ vorgelesen, gepisst, gefummelt, liebkost und Waterboarding simuliert.

Auffälligstes Requisit sind paillettenbesetzte Stofffetzen, die mal zur schicken Haube, mal zur Gespenstermaske, mal zum Folterzubehör werden – vielleicht Marx’ „Nebelkappe, tief über Aug’ und Ohren“. Tarnkappe und Scheuklappe, die schon wieder schick ist, weil sie den Exzess, für den sie steht, zum Accessoire macht.

„We don’t torture“, heißt es immer mal wieder, am Ende im hippiesken Chor. Und das stimmt und stimmt nicht. Alles, was in der Gemeinschaft der Performer*innen passiert, basiert, auch wenn es über Grenzen, zum Beispiel der Scham, geht, auf Vertrauen. Gleichzeitig wissen sie, dass sich dieser Vertrauensraum nicht über den Bühnenrand erweitern lässt. Jenseits der Bühne bleiben sie Teil eines Systems, das Ausbeutung und Folter in Kauf nimmt. Sich zu verweigern wäre scheinheilig, sich zu ergeben kriminell.

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