: Müller ist souverän geworden
Haltung zeigen Auch der Landesparteitag der Berliner SPD, in dem es eigentlich vor allem um Formales hätte gehen sollen, war von den Anschlägen in Paris überschattet
von Bert Schulz
Dann ist doch alles ganz anders: „Die Reden, die hier eigentlich gehalten werden sollten, haben wir gestern alle gegen 22 Uhr wieder in die Klarsichthülle geschoben“, sagt Jan Stöß, nachdem er am Samstagvormittag als erster Redner ans Pult beim SPD-Landesparteitag getreten war. Ein Parteitreffen, überschattet von den Anschlägen in Paris; eines, auf den die Phrase vom Wechselbad der Gefühle tatsächlich passt – in vielerlei Hinsicht.
Eigentlich hatte es ein „Arbeitsparteitag“ sein sollen, was übersetzt so viel heißt wie: wenig Spannung, viel Formalkram. Doch am Donnerstag war der Regierende Bürgermeister Michael Müller (SPD) im Abgeordnetenhaus den Koalitionspartner CDU in Sachen Flüchtlingspolitik frontal und in ungewohnter Schärfe angegangen. Prompt stiegen auch die Erwartungen an den Samstag: Wie tief sind die Differenzen in der Koalition, die voraussichtlich sowieso nur noch ein Jahr dauern wird? In der Nacht auf Samstag dann die Anschläge von Paris, Partnerstadt Berlins.
Die Stimmung an diesem Morgen im Kongresszentrum am Alexanderplatz ist undefinierbar, die Sicherheitsvorkehrungen sind offensichtlich verstärkt. „Dieser Anschlag hätte auch hier stattfinden können“, sagt Stöß kurz nach Anfang seiner Rede. „Doch unsere freie und offene Gesellschaft werden die Attentäter nicht zerstören.“
Und damit geht der Parteichef zum politischen Teil über – die Klarsichthülle mit dem alten Redemanuskript hat er offenbar doch mitgebracht. „Ganz klar entgegentreten“ werde man allen, die jetzt versuchen sollten, die Anschläge für ihre rechtspopulistischen, parteipolitischen Ziele zu nutzen, sagt Stöß – es ist ein klare Warnung an den kleineren Koalitionspartner CDU, insbesondere an Innensenator Frank Henkel, aber auch an die AfD.
Stadtentwicklungssenator Andreas Geisel hat auf dem SPD-Parteitag das auf Druck der Initiative Mietenvolksentscheid zustande gekommene Wohnraumversorgungsgesetz gelobt. Bei den Verhandlungen hätten „beide Seiten gelernt“ und Vorurteile abgebaut. Das am Donnerstag verabschiedete Gesetz sei deswegen auch „kein Kompromiss, sondern ein Ergebnis“. Der Senator verteidigte direktdemokratische Verfahren gegen Kritik auch aus den eigenen Reihen: „Wir haben diese Instrumente eingeführt und können uns jetzt nicht beschweren, dass sie genutzt werden." (bis)
Hier gelingt Stöß sogar ein Rückgriff auf Helmut Schmidt, den in der vergangenen Woche gestorbenen ehemaligen SPD-Bundeskanzler und Berliner Ehrenbürger. Von ihm habe man gelernt, dass der Nationalstaat überwunden werden müsse und Europa die Zukunft sei. „Wir wissen in dieser Stadt: Mauern und Stacheldraht sind keine geeignete Politik, um Menschen zu trennen. Das dürfen wir nicht mehr zulassen.“ Womit Stöß ganz schnell bei der Flüchtlingspolitik ist.
Der Parteichef, nicht unbedingt ein ausgesprochener Freund Michael Müllers, lobt dessen Regierungserklärung im Abgeordnetenhaus als „eindrucksvoll“. Haltung brauche es jetzt, um die Flüchtlinge in der Stadt integrieren zu können, so Stöß. Die Reaktionen der CDU „in zänkischem Ton“, vor allem von Generalsekretär Kai Wegner, nennt Stöß „peinlich“.
Auch Müller, der nach dem Landeschef spricht, teilt weiter gegen den Koalitionspartner aus – erst gegen Sozialsenator Mario Czaja, dem er kaum verhohlen Versagen im Amt unterstellt. Auch Henkel wirft Müller vor, seiner Verantwortung nicht gerecht zu werden und sich vor Arbeit zu drücken. In der Schärfe bleibt die Kritik indes hinter der vom Donnerstag zurück.
Müller gibt Fehler in der Flüchtlingspolitik zu und dass sich einige seiner Wünsche nicht erfüllt haben. Sein Anspruch aber bleibe: „Ich will den Menschen, die zu uns kommen, helfen.“ Offene Grenzen und individuelles Asylrecht seien Errungenschaften auch der SPD, die nicht aufgegeben werden dürften.
In diesem Jahr hat Berlin bereits 58.000 Flüchtlinge aufgenommen. Und Müller bereitet die Partei auf weitere Herausforderungen vor: „Ein Jahrzehnt der Integration liegt vor uns. Nicht alle werden hier bleiben können, aber viele werden bleiben.“ Der Regierende ermahnt die Delegierten: In der Vergangenheit habe man Fehler gemacht, „weil wir dachten, manches geschieht von alleine“.
Einige Stunden später verabschiedet der Parteitag nach längerer Debatte über Details einstimmig eine Resolution mit dem Titel „Menschlich bleiben. Haltung zeigen“. Darin heißt es: „Wir wollen ein weltoffenes Berlin, das Menschen in Not willkommen heißt, ihnen Schutz und ein neues Zuhause bietet.“ Und: „Das Grundrecht auf Asyl kennt keine Obergrenze. Wer das den Menschen einredet, will Hand anlegen an die Substanz unseres Grundgesetzes, und das wollen wir nicht.“
Da ist Michael Müller schon nicht mehr auf dem Parteitag. Er habe sich in der Nacht auf Samstag um seinen Vater kümmern müssen, dem es nicht gut gehe, hat er zu Beginn gesagt: „Manchmal passieren Dinge über Nacht, mit denen man nicht rechnet“; deswegen habe er auch kein Manuskript, seine Notizen passen auf ein DIN-A4-Blatt. Dem gut 40-minütigen Auftritt merkt man die Improvisation nicht an. Müller ist, knapp ein Jahr nach seiner Wahl, souverän geworden in seinem Amt. Von den Delegierten erhält er Standing Ovations. Draußen weht die SPD-Fahne auf halbmast.
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen