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Wenn die Bühne zum Labor wird

Aktuelle Musik Matthias Kauls „Kafkas Heidelbeeren“ ist ein anarchisches Klangtheater voller Unwägbarkeiten. Auf dem Festival „Greatest Hits“ feiert es nun seinen zehnten Geburtstag

von Robert Matthies

Dass man immer wieder die Orientierung verliert, ist ausdrücklich gewollt. Voller Unschärfe, Irrwege, Einschnitte und unsicherer Assoziationen ist „Kafkas Heidelbeeren“ von Matthias Kaul. Das Klangforschungsexperiment des Hamburger Perkussionisten, Komponisten und Instrumenten-Erfinders ist ein Spiel mit Fragmenten, bei dessen Entzifferung man sich immer wieder verhört und verliest.

Kaul entgrenzt die Beziehung von Körper und Klang. Ganz unvermittelt platzt zum Beispiel immer wieder die Ouvertüre herein. Aber woher kommt sie? Spielen die Musiker oder ist es doch ein Playback? Kommen die Stimmen aus den Kehlen oder aus den kleinen Lautsprechern, die die Vokalisten sich in den Mund gesteckt haben?

Ein „imaginäres Vokal- und Instrumentaltheater für Sopran, Mundartistin, Schauspieler, Flöte, Gitarre, Schlagzeug und Klangregie“ nennt Kaul sein Stück. Die Bühne ist tatsächlich aufgebaut wie ein Labor: An einzelnen Stationen stehen im dunklen Raum die Instrumente, darunter Glasflaschen, Staubsauger, ein obertonmodulierender Kochtopf, Telefonhörer und Lautsprecher, die auf aufziehbaren Spielautos befestigt sind, die die Richtung wechseln, sobald sie irgendwo anstoßen – genauso wie die Musik.

Zwischen den Stationen wandern die Musiker und Vokalisten hin und her, rezitieren Texte von Franz Kafka, dem französischen Denk-Kartografen Roland Barthes und dem belgischen Surrealisten Henri Michaux, mal sonor, mal jaulend oder flüsternd. Und sie spielen Zitate aus zwei Liedern aus Franz Schuberts „Winterreise“: „Täuschung“ und „Der Wegweiser“. Aber auch sie taugen nicht dazu, sich einen eindeutigen Weg durch die zerklüftete Klanglandschaft zu bahnen. Eins der beiden Stücke hört man ohnehin nur rückwärts.

Immer wieder tauchen dieselben Fragmente aus immer anderen Mündern, Körpern und an anderen Orten wieder auf, dem Gedanken Kafkas folgend, „dass immer wieder alles neu ist, da es zu einer anderen Zeit an einer anderen Stelle scheinbar gleich wieder auftritt“. Auch am Ende des Stücks steht schließlich ein Zitat von Kafka: „Jetzt sei es Zeit für Sesshaftigkeit. Die Heidelbeeren: prächtig genug behängt, um geerntet zu werden.“

Vor zehn Jahren hat Kaul das Stück für sein Ensemble L’art pour l’art geschrieben. Das Ensemble ist sein Vehikel für zeitgenössische Musik, die sich dem Ernst der Neuen Musik mit anarchischer Freude entzieht. Denn im Herzen ist Kaul Rocker und Jazzer geblieben und er mag all seine verschiedenen stilistischen Einflüsse nicht in Schubladen stopfen.

Kaul zitiert Bob Dylan ebenso wie Frank Zappa, dessen „zynisch anarchische Virtuosität“ er liebt, und bringt Pauken zum Schreien wie Jimi Hendrix seine Gitarre. Oder er lässt Musik der Xhosa, Samburu und Massai einfließen, die er während einer dreijährigen Afrikareise Ende der 1980er-Jahre studiert hat.

Spielzeugautos mit Lautsprechern darauf ändern die Richtung, sobald sie irgendwo anstoßen

Ausgebildet wurde Kaul als Schlagzeuger an der Hochschule für Musik und Theater in Hamburg. Als Komponist hingegen ist der 66-Jährige ein Autodidakt, frei von jeglicher Dogmatik und Verpflichtung, Instrumente auf traditionelle Weise spielen zu müssen.

Als Musiker ist Kaul, der 2012 sowohl mit dem Echo als auch mit dem Preis der deutschen Schallplattenkritik ausgezeichnet wurde, vor allem ein Handwerker. Ein ganzes Arsenal neuer Instrumente hat er gebaut und alte Instrumente wie die von Benjamin Franklin erfundene Glasharmonika weiterentwickelt: ein Reibe-Idiophon aus gestimmten Glasröhren, die gerieben, geschlagen und geblasen werden können. Instrumente, die allesamt fragil sind, kein Hightech. Und auch Elek­tronik nutzt Kaul nicht als Ausdruck von Künstlichkeit, sondern als etwas, dass es wieder mit Leben zu füllen gilt.

„Kafkas Heidelbeeren“ gehört übrigens zu den selten realisierten Stücken des Klangforschers Kaul. Dabei zählt das Stimm- und Instrumententheater für ihn selbst auch heute noch zu seinen „Greatest Hits“. Folgerichtig, dass das lustvolle Lob der musikalischen Orientierungslosigkeit am kommenden Samstag bei der dritten Ausgabe des gleichnamigen Festivals für zeitgenössische Musik auf Kampnagel endlich mal wieder zu hören ist. Im Rahmen des den „Local Heroes“ aktueller Musik gewidmeten Abends feiert es seinen zehnten Geburtstag.

Festival „Greatest Hits“: Do, 19. 11., bis So, 22. 11., Kampnagel, Jarrestraße 20

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