: Jetzt seid ihr „Bedarfsgemeinschaft“
betr.: „Die Parasiten wohnen anderswo“, taz vom 27. 10. 05
Du bist arbeitslos und lebst mit einer Frau zusammen. Sie hat zum Glück Arbeit. Ihr seid nicht verheiratet. Macht nichts. Wir sind ja tolerant. Außerdem zahlt sie dann ja wenigstens mehr Steuern (sorry: Ehegattensplitting nur mit Trauschein). Es gibt ein neues Gesetz: gültig seit 1. 1. 2005. Eine große „Reform“. Ein mächtiger Schritt zur Rettung unseres Landes. Sogar der Bundespräsident spricht sein Lob aus (der war mal Chef vom IWF). Jetzt seid ihr eine „Bedarfsgemeinschaft“. „Starke Hände müssen mehr tragen“. NEIN! Nicht der Staat oder die Reichen im Lande! Deine Lebensgefährtin! Sie hat doch ein Einkommen! Also kann sie für dich sorgen. Versichern muss sie dich eventuell auch noch. Na ja, ist doch gerecht – oder?
Eigentlich war’s schon vor der großen „Reform“ schwer für dich. Sie hatte mehr Geld als du und ’ne Arbeit. Zumindest konntest du mit deiner Arbeitslosenhilfe etwas zum Haushaltsgeld beitragen und hattest noch Geld für dich. War nicht toll, aber da du ja ausschaust und Charme hast wie Bratt Pitt und Robert Redfort in ihren besten Jahren, konntest du bei ihr bleiben.
Dann kam die große „Reform“: Deine Partnerin musste ihre Finanzen für deinen ALG-II-Antrag offen legen. „Wieso ich?“, fragte sie (leicht genervt ). „Du bist doch arbeitslos.“ Ums kurz zu machen: Ende des Jahres kriegtest du deinen Bescheid. Du bekommst ab jetzt 100 Euro Stütze – ansonsten ist jetzt deine „Bedarfsgemeinschaft“ zuständig. Vielleicht kriegst du jetzt auch gar nichts mehr, und sie muss dich jetzt auch noch krankenversichern. Was sind schon 260 Euro? Alles aus Liebe … Ach ja, ein bisschen Taschengeld für dich müsste auch noch drin sein … Wieso hat deine Freundin kein Verständnis für die „Reform“? Sie zahlt jeden Monat 60 Prozent ihres Gehalts an Steuern und Sozialabgaben. Da dachte sie vielleicht, dass der Staat ihren Freund im Falle eines Falles auch unterstützen kann.
Na, jedenfalls hast du dir jetzt ’ne eigene Wohnung zugelegt. Eigentlich ja idiotisch: War doch vorher billiger – eine Wohnung für zwei. Vielleicht darfst du deine Freundin jetzt sogar noch mal besuchen. Wer weiß. So ganz glücklich ist sie mit der Situation ja nun nicht. Die große Wohnung muss sie jetzt allein bezahlen.
Du liest die Zeitung. Die lag da rum im Hausflur … ein Abo ist nicht drin. Anscheinend ist der Minister wütend. Auf wen? Auf die Arbeitslosen, die seit Einführung der neuen großen „Reform“ in ’ne eigene Wohnung gezogen sind. Du liest was von explodierenden Kosten, „Missbrauch“. „Die Zahl allein lebender Leistungsbezieher hat sich seit Einführung von ALG II dramatisch erhöht.“
War die Reform vielleicht falsch? Waren die Berechnungen völlig falsch und wurden die Auswirkungen überhaupt nicht richtig eingeschätzt? Haben SPD, Grüne und CDU/CSU einen Fehler gemacht? Natürlich nicht! Sagt ja auch der Bundespräsident, dass das mutig von der Regierung war, obwohl doch die eigenen Wähler dagegen waren. Stimmt: Du warst auch gegen die „Reform“. Aber die „Reform“ ist natürlich gut. Schuld ist nur der Missbrauch. Schuld sind die Arbeitslosen. Du bist schuld! Du bist der Parasit.
Die lange Arbeitslosigkeit hat dich zermürbt. Vor der „Reform“ hattest du schon kaum Hoffnung. Jetzt sitzt du allein in deiner Wohnung. Du liest weiter: Die Bundesagentur berichtet: „Nur bei jedem zweiten Kontrolltelefonat konnte ein Mitarbeiter der Bundesagentur einen Bezieher von ALG II erreichen.“ Es könne ja wohl kaum sein, dass die anderen alle während dieser Zeit bei einem Bewerbungsgespräch seien …
Stimmt, denkst du. Auch ich sitze nicht jeden Tag von 7.30 Uhr bis 16.30 Uhr neben meinem Telefon. Manchmal gehe ich auch einkaufen (Lebensmittel). Außerdem halte ich es nicht den ganzen Tag allein in der Wohnung aus. Ich muss ab und zu mal rausgehen. Ein paar Runden im Park drehen. Oder den anderen beim Einkaufen in der City zusehen. Eigentlich wolltest du ja auch das Telefon abmelden. Hast einfach kein Geld mehr dafür. Es ruft eh kaum einer mehr an. Mit den Kollegen von deiner letzten Arbeit hast du keinen Kontakt mehr und außerdem kannst du es dir nicht mehr leisten, auf ein Bier in die Kneipe zu gehen. Aber darfst du dein Telefon überhaupt abmelden? Dann kann ja dein „Jobvermittler“ keinen Kontrollanruf mehr machen. Du weißt gar nichts mehr … OSGER ECKARDT, Kiel