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Poetische Soundwolken

DEKONSTRUKTION Jenny Michel beschäftigt sich in ihrer Solo-Ausstellung „Maps and Legends“mit der Wissensproduktion und macht sie sichtbar. Seeungeheuer kommen auch darin vor

Jenny Michel, Vergleichende Anatomie des Fortschritts#1 – Fortschrittsskelett, 2015 Foto: Galerie Feldbusch Wiesner

von Julia Gwendolyn Schneider

Ein wolkenförmiges Gebilde breitet sich in einer Ecke im hinteren Galerieraum auf der oberen Hälfte der Wand aus. Seine diffuse, poröse Struktur, die nahezu schwebende Cluster in roten, blauen und schwarzen Farbtönen ausbildet, zieht den Blick auf sich: Die Arbeit „Traps“ (2015) zeigt Jenny Michel derzeit in ihrer Solo-Ausstellung „Maps and Legends“ in der Galerie Feldbusch Wiesner. Für die Künstlerin geht es bei diesem Gebilde, das wie eine gewaltige Spinnwebe in der Zimmerecke hängt, um „wissenschaftliche Fallen“, wie sie sagt.

Michel hat dieses Spinnennetz aus zarten Papier-Cut-Outs zusammengebaut, die auf Fotokopien von dekonstruierten wissenschaftlichen Darstellungen beruhen. Deren strenges Regelwerk ist weiter erkennbar, doch ist kaum noch ersichtlich, ob es sich um Schaltpläne von Maschinen, Kartierungen von Städten oder biologische Kreisläufe handelt. Michel hat sich bei solchen und ähnlichen Systemen frei bedient, sie so zerklüftet, dass die Verfahren, die sie erklären und darstellen sollen, nicht mehr nachvollziehbar sind.

Hinter den vermeintlichen Informationsclustern befinden sich Funkempfänger, und die gesamte Formation ist mit dünnen Kupferdrähten durchzogen, sodass normalerweise nicht hörbare Raumsignale aufgefangen und für die Betrachter als undefinierbare Geräusche vernehmbar werden. Die wissenschaftlichen Zeichnungen und Modelle werden so zu Fallen, die Signale von elek­tromagnetischen Raumfeldern einfangen, die für den menschlichen Wahrnehmungshorizont normalerweise nicht existieren.

Die Künstlerin spielt mit den Grenzen des Sichtbaren und kognitiv Erfassbaren. Ihre poe­tische Soundwolke versteht sie als eine Analogie zu wissenschaftlichen Herangehensweisen, die unfassbare Phänomene greifbar machen wollen. Vergessen werde dabei aber oft, dass es sich um Übersetzungen und somit um einen möglichen Blick auf die Welt handle, aber nicht um die Wahrheit an sich. Viele von Michels Werken beschäftigen sich kritisch mit Systematisierungen, die die Welt um uns herum lesbar machen und gleichermaßen unsere Weltsicht beeinflussen.

Diesem Ansatz folgend, kollidieren in Michels aktuellen Zeichnungen „Drowning in Numbers“ gewissermaßen „ertrunkene“ Seemonster aus vergangenen Zeiten mit heute gängigen elektronischen Seekartensystemen, die im Wesentlichen nur noch aus Nummern und Linien bestehen, während maritime Monster auf altertümlichen Karten stets eine Rolle spielten und zur Weltsicht dazugehörten. Äußerst feinsinnig und gegenläufig zu den digitalisierten Kartensystemen, auf die sie sich beziehen, benutzt Michel, ähnlich wie bei „Traps“, fragile Transparentpapiere.

Der Blick ins Innere der Kapsel zeigt einen chaotischen Mikrokosmos

Sie überträgt darauf Auszüge schematischer Zeichensysteme verschiedener computerisierter Seekarten und setzt in das Meer aus Zahlen und Linien, mit Heftnadeln aufgespießt, fotokopierte Fabelwesen. Mit dieser Arbeit verweist sie darauf, dass Wissen etwas Gemachtes ist. Die Seeungeheuer waren zur Zeit ihrer Erfindung aktuell, heute ermahnen sie uns, dass unser Denken in der Gegenwart verhaftet ist. Provokant meint Michel dazu: „Das Wissen von heute ist der Abfall von morgen.“ Während Wissen heute in vielen Bereichen hochspezialisiert ist, veraltet es im digitalen Zeitalter besonders schnell.

Wie ein Symbol für solche bereits untergegangenen Wissenssysteme sieht auch die eigentümliche Raumkapsel aus, die gestrandet auf dem Fußboden der Galerie liegt. Die durchlöcherte, aufgerissene Kapsel aus der Serie „Vehicle in Decay“ (2014) ist aus billigen Abfallstoffen entstanden. Einfaches Holz, von Obstkisten stammend, bildet das äußere Gerüst des zerbrechlichen Gebildes, dessen filigranes Inneres in vielen Arbeitsschritten aus Kartons, Pappen, Papiere und Folien, Schicht für Schicht, zusammengebaut wurde. Der Blick ins Innere der abgerissenen Kapsel zeigt einen chaotisch wirkenden Mikrokosmos aus kleinteiligen, wild wuchernden Netzstrukturen. Das unüberschaubare Gewirr stammt ursprünglich von Schaltplänen und Konstruktionszeichnungen technischer Geräte, die durch ein einfaches Kopierverfahren auf Pappen übertragen, zerschnitten und dann weiter fragmentiert und durchlöchert wurden.

Michels untaugliches Vehikel spielt mit analoger Do-it-yourself-Technik auf die Schnelllebigkeit unserer digitalen Welt an. „Meine Sicht auf wissenschaftlichen Fortschritt ist zwiegespalten – bringt er uns tatsächlich einer strahlenden Zukunft näher?“ Dass diese Frage die Künstlerin beschäftigt, zeigt sich in der Ambivalenz ihrer fiktiven Wissensarchitekturen. Deren minutiöse Struktur ist faszinierend, die ruinöse Erscheinung frappierend.

Jenny Michel, „Maps and Legends“, Feldbusch Wiesner, bis 5. Dezember

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