piwik no script img

Die Erde dreht sich um die Sonne

VERUNSICHERUNG Die Philosophin Natalie Knapp und ihre zivilisationskritische Schrift „Der unendliche Augenblick“

Natalie Knapp hat die Fähigkeit, komplexe Zusammenhänge verständlich und unterhaltsam darzustellen. In ihrem dritten Buch, „Der unendliche Augenblick“, widmet sie sich dem kreativen Potenzial von Übergangszeiten – sowohl im individuellen Leben als auch in der Gesellschaft. Geburt, Pubertät, Trauerzeiten oder das Wissen um den baldigen Tod sind verunsichernde Erfahrungen, in denen die bisherigen Routinen nicht mehr weiterhelfen und neue Schritte gewagt werden müssen. Erst nach einer Ex­perimentierphase kann neue Stabilität auf der Grundlage eines neuen Bewusstseins entstehen.

In einer vergleichbaren Verunsicherungsphase befinden wir uns gegenwärtig – und das zum wiederholten Mal, so die zentrale These des Buches. Angelehnt an Jean Gebser zeichnet die Autorin nach, wie in Krisenzeiten und Übergangsphasen Bewusstseinssprünge entstehen. Zunächst wandle sich das Weltbild von Einzelnen, bevor es dann nach und nach die gesamte Gesellschaft durchziehe.

Während sich die Urmenschen wie heutige Babys noch in Einheit mit der Umwelt erlebten, machte die Erfindung von Werkzeugen sie zu Gestaltern. Menschen erkannten, dass sie ihre Umgebung manipulieren und beeinflussen können – ähnlich wie Kleinkinder, deren Bewusstsein erwacht. „Die Veränderungen lassen sich nicht durch pure Willenskraft oder exzessives Training herbeiführen. Wenn die Zeit gekommen ist, wandelt sich die Wahrnehmung“, schreibt Knapp. Durchdringe die dann die Kultur, übernehmen neue Generationen diese Perspektive selbstverständlich, als ob es nie eine andere Möglichkeit gegeben habe.

Heute sind die Regeln per­spek­ti­vischen Zeichnens jedem Oberstufenschüler vertraut – als Filippo Brunelleschi im 15. Jahrhundert die Zentralperspektive entdeckte, war das etwas völlig Neues. Damit einher ging die bewusste Erfahrung von dreidimensionalen Räumen. Mehrere Jahrhunderte dauerte es noch, bis sich die allgemeine Einsicht durchgesetzt hatte, dass sich die Erde um die Sonne dreht. Die Vorstellung widersprach nicht nur religiösen Überzeugungen, dass Gott seine Krone der Schöpfung selbstverständlich im Zentrum des Universums angesiedelt hatte. Auch Alltagserfahrungen schienen dagegen zu sprechen, dass sich unser Planet mit rasender Geschwindigkeit durchs All bewegt.

Gegenwärtig prägt noch die Idee von permanentem Wachstum Gedanken und Seelenleben der Gesellschaft. Doch die Verunsicherung nimmt zu, die Menschheit befindet sich erneut in einer fundamentalen Krise – und ein neuer Bewusstseinssprung könnte bevorstehen. Knapp entdeckt bereits ein verändertes Zeit- und Vernetzungserleben und befindet sich damit durchaus in einem Trend, der sich auch in neuen Managementansätzen wie dem von Frederic Laloux widerspiegelt: Die Verbindung zu künftigen Generationen wird ebenso bewusst wie die Wahrnehmung, dass der Körper nicht isoliert von der Umwelt existiert. Aus dieser Perspektive erweist sich das autonome Individuum als Illusion, die Vorstellungen der Aufklärung als zu eng.

Viele versuchen heute, diese Werte hochzuhalten, weil die Alternative der Rückfall in religiösen Wahn und fehlende Rechtsstaatlichkeit zu sein scheint. Knapp aber sieht in der Krise die Chance. Die Menschheit könnte endlich zu dem Bewusstsein gelangen, Teil der Natur zu sein und mit ihrem wachstumsversessenen Lebensstil zu brechen. Das bedeutet keine Rückkehr zu den Anfängen des Ackerbaus, sondern Eintritt eine neue Phase. Eine hoffnungsvolle Aussicht. Annette Jensen

Natalie Knapp: „Der unendliche Augenblick. Warum Zeiten der Unsicherheit so wertvoll sind“. Rowohlt Verlag, Reinbek, 319 Seiten, 19,95 Euro

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen