Berliner Szenen: Doch keine Kolumne
AGB und Amerika
In der Bibliothek am Luisenbad habe ich mal ein Buch ausgeliehen. Es handelte von einem Mann und seinen Erinnerungen. Er merkt irgendwann, dass er sie in seinem Kopf so zurechtgerückt hatte, dass das nicht so gut zur Wirklichkeit passte. Das erinnerte mich an eine Fotoausstellung, die ich mal in Kreuzberg sah. Eine Künstlerin hatte Fotos aus ihrer Kindheit bearbeitet. Jedes war doppelt zu sehen. Aber auf einem zum Beispiel war der Wellensittich blau, auf dem anderen grün. Auf einem Foto war am Himmel ein Ballon zu sehen, auf dem anderen nicht. Wenn ich mich richtig erinnere. Mit den Fotos wollte die Künstlerin wohl genau dies sagen: dass man der Erinnerung nicht ganz trauen kann.
Neulich haben sie in der AGB, also der Amerika Gedenkbibliothek, Führungen gemacht zur Geschichte und Architektur. Auf dem Gebäude steht nur „Gedenkbibliothek“, ohne „Amerika“. Die AGB-Leute sagten, dass das immer so war, auch wenn viele etwas anderes zu erinnern glauben. Und bei einer Führung war sich jemand von den Teilnehmenden in der Tat sicher, dass da früher „Amerika“ mit draufstand. Ich fand, das ist ein hübsches Thema, diese Sache mit der AGB ohne Amerika und mit der Erinnerung. Und ich dachte: Da könnte man einen kleinen Kolumnentext zu schreiben und das mit dem Wellensittich reinbringen und den Konstruktivismus erwähnen, von wegen jeder konstruiert sich seine eigene Wirklichkeit.
Aber dann drückte mir einer von der AGB einen Zeitungstext in die Hand, aus dem Freitag. Da hatte ein Kollege die Geschichte schon aufgeschrieben mit dem fehlenden „Amerika“ auf der Bibliothek und den Erinnerungen. Statt Konstruktivismus schrieb er was von Strukturalismus. Ansonsten war im Text alles gesagt. Okay, dachte ich, doch keine Kolumne. Aber in seinem Text kommt kein Wellensittich vor. Giuseppe Pitronaci
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